Kleines Mediengericht

Bilder ändern ihre Bedeutung: Die deutsche Karriere des Saigoner Polizeichefs Nguyen Ngoc Loan

Würde einmal ein Schwarzbuch des Kapitalismus erscheinen, käme es nach Ansicht liberaler Antitotalitaristen, die so etwas nicht von vornherein ausschließen wollen, höchstens auf den Umfang eines durchschnittlichen Paperbacks. Denn aufgenommen würden nur solche unter der Ägide von Markt und Demokratie verübten Greuel, die auf Täter mit "Namen und Anschrift" zurückzuführen sind

Im fotografischen Teil hätten beispielsweise folgende Bilder kaum Chancen auf Veröffentlichung: eine Aufnahme des amerikanischen Time / Life-Fotografen Ronald Haeberle mit dem nüchternen Agentur-Titel "Zivile Opfer des Massakers von My Lai. Südvietnam 16. März 1968". Das Foto zeigt etwa 20 auf einem unbefestigten Weg liegende Leichen unterschiedlichen Alters und Geschlechts. Sie wurden erschossen, weil ihre Mörder sie für Sympathisanten des Vietcong hielten. Die Mörder sind allerdings nicht im Bild; die Toten liegen da und könnten auch Opfer einer Naturkatastrophe oder eines Unfalls sein. Ihre neutrale Kennzeichnung und die Nichterwähnung von Verantwortlichen und Ausführenden des Massakers unterstreicht diesen Eindruck. Sollte hier die Frage nach Verantwortlichkeit aufkommen, kann sie schnell mit der Erwähnung des Phantoms "der Krieg" beantwortet werden

Oder das inzwischen zur pazifistischen Ikone gewordene Foto des südvietnamesischen AP-Reporters Huynh Cong Ut "Napalm-Bombardierung von Trang Bang, 8. Juni 1972". Diesem Bild wurden in seiner reichen Veröffentlichungsgeschichte häufig spektakuläre Titel unterlegt, wie "Das entfesselte Grauen des Krieges" oder "Kinder auf der Flucht vor der Feuerwalze". Fünf vietnamesische Kinder laufen schreiend auf das Kameraauge zu. Im Zentrum, unbekleidet und wahrscheinlich schwerverletzt, ein Mädchen mit schmerzverzerrtem Gesicht. Hinter den Kindern vier südvietnamesische Soldaten. Ihre Rolle ist unklar, sie könnten die Kinder vor sich hertreiben, aber auch ihre Beschützer sein. Im Hintergrund ist eine riesige dunkle Rauchwolke zu sehen, die ebenfalls in das Objektiv zu streben scheint und vor der möglicherweise alle im Bild Fixierten - also auch die uniformierten südvietnamesischen Komplizen der amerikanischen Napalmwerfer - fliehen

Die Frage nach Verantwortung für "das entfesselte Grauen des Krieges" kann auch hier nur zirkulär beantwortet werden. Der Krieg ist als Naturereignis seine eigene Ursache, so wie wenn Ältere sagen: "Dann kam der Krieg" als sagten sie: "Dann fing es an zu regnen" oder: "Über Nacht brach der Winter herein"

Ein anderes Foto aus dem Vietnam-Krieg dürfte jedoch ohne Bedenken in einem - dünnleibigen - antikapitalistischen Schwarzbuch aufgenommen werden. Es entstand am 1. Februar 1968, brachte seinem Fotografen Eddie Adams den Pulitzer-Preis ein und wurde kürzlich noch einmal in den deutschen Massenmedien veröffentlicht. Ein stämmiger Mann mit Militärjacke und geschorenem Schädel richtet eine Pistole auf die Schläfe eines schmächtigen Mannes mit vollem Haar, dem die Hände auf den Rücken gefesselt sind, und drückt wohl gerade ab. Neben dem Schützen steht ein Stahlhelm tragender Soldat mit einem Grinsen wie aus einem antitotalitären Comic. Der augenfällige Unterschied von Mörder und Ermordetem galt seinerzeit der Linken als symbolisch für die Aggression des westlichen Imperialismus gegen die Dritte Welt. Für die bürgerliche Öffentlichkeit war dieses Foto nur wohlfeile Metapher für die "Grausamkeit des Krieges"

Auch bei seiner kürzlichen Wiederveröffentlichung anläßlich des späten Todes des Täters trug das Foto zunächst einen recht nüchternen Titel: "Der Saigoner Polizeichef General Loan erschießt im Jahre 1968 auf offener Straße den als Vietcong verdächtigten Nguyen Van Lem". Doch immerhin - Täter und Opfer sind nun identifizierbar: Der Täter "floh, als die kommunistischen Nordvietnamesen den Süden 1975 eroberten, in die USA, ließ sich in Burke nieder, einem Vorort Washingtons, und eröffnete ein kleines Restaurant" (Süddeutsche Zeitung) und "Die Witwe des Hingerichteten lebt heute in Ho-Chi-Minh-Stadt, in der Nähe des Than Son Nhut Flughafens." (Tagesspiegel) Deutsche Zeitungen zeigen jetzt demonstrativen Abscheu über "General Loans kaltblütigen Mord" (taz). "Der Henker aus Saigon ist tot" meldete der Tagesspiegel, und die Süddeutsche Zeitung frohlockte gar: "Der Mörder ist tot". Man könnte fast glauben, General Nguyen Ngoc Loan, einst als Held zwar nicht gerade gefeiert, doch als Vorkämpfer der freien Welt respektiert, solle post mortem vor den mit deutschem Herzblut durchgesetzten Internationalen Strafgerichtshof gezerrt werden

Vor dieser, hierzulande in apokalyptischer Manier auch als Weltgericht bezeichneten Institution, müßte dann aber auch eine Reihe von Deutschen erscheinen, die damals zumindest ideell mit abgedrückt haben. Knapp zwei Wochen nach den Saigoner Mord fand im damaligen Westberlin die "Internationale Vietnam-Konferenz" statt, die heute gern als Inaugural-Event der "68er" abgefeiert wird. Weil "68ern" inzwischen zu Recht der Mief von banalen Arrivierten anhaftet, was sich damals schon in der beginnenden Gleichsetzung von vietnamesischem und deutschem Volk ankündigte, soll von den Reaktionen der originär-banalen Deutschen die Rede sein

Die waren der Meinung, daß General Loan samt amerikanischer Chefs und südvietnamesischer Knechte auch die Freiheit der Westberliner Currywurst verteidigte. Deshalb "lassen wir es nicht zu, daß man ihnen (den USA; H.P.) gerade hier unwidersprochen auf die Stiefel spuckt", verkündete der Regierende Bürgermeister Klaus Schütz (SPD) zwei Tage nach der Vietnam-Konferenz einer fanatischen, mehr als 50 000köpfigen Menge vor dem Rathaus Schöneberg. "Die Kommunisten von Ost und West der Berliner Mauer", hatte Schütz zuvor im Radio verkündet, "haben sich hier ohne Zögern mit all den Halbchinesen, Mao-Anhängern, Trotzkisten, Anarchisten und ähnlichen verbrüdert." Die klassische deutsche Mental-Mischung aus eingebildeter Opferrolle, rassistischer Paranoia und politischem Erlösungswahn hatte mehr als 20 Jahre angeblicher alliierter "Umerziehungs"-Versuche unbeschadet überstanden. "Wir lassen unser freiheitliches Berlin nicht zertrampeln. Wir setzen uns zur Wehr!" feuerte Schütz die Menge an, die ihn ihrerseits mit Transparenten - "Herr Bürgermeister, machen Sie endlich Schluß mit der Seuche!" - anspornte

Dankbar, sich endlich wieder als Deutsche zur Wehr setzen zu dürfen, hatten die Westberliner schon während der Vietnam-Konferenz die Aufforderung ihres Bürgermeisters: "Ihr müßt diese Typen sehen. Ihr müßt ihnen genau ins Gesicht sehen!" so beherzigt, wie sie gemeint war. Bei ihren Gesichtskontrollen wurden etliche Konferenz-Teilnehmer angepöbelt, bespuckt und zusammengeschlagen. Am Rande und nach der Massenkundgebung vor dem Schöneberger Rathaus kam es dann zu den traditionellen deutschen Jagdszenen. Selbst Springers Welt notierte: "Mißtrauisch beobachtet wurden Personen mit langen Haaren. Ein Wort, ein Widerwort, schon war die Auseinandersetzung da, schon gab es Prügel." Ein in Berlin lebender Schweizer wurde, nachdem er eine Gruppe fotografiert hatte, die einen jungen Mann zusammengeschlagen hatte, selbst krankenhausreif geprügelt. Mit letzter Kraft suchte er Hilfe bei der zuschauenden Polizei. Die Menge forderte seine Auslieferung mit der Begründung "Das ist ein Fremder, ein Schwuler, ein Zugelaufener, der ist nicht von hier." Auch ein Stern-Reporter geriet in solchen Verdacht und war auf die Hilfe der Polizei angwiesen, der es schließlich gelang, den Mob mit einer originellen Argumentation zu beschwichtigen: "Kein Mensch ist so schlecht, daß er gleich (!) totgeschlagen werden muß". Wahrscheinlich wäre General Loan damals gern Berliner gewesen

Dreißig Jahre später ist das Gros der 68er "Halbchinesen" so deutsch wie ihre früheren Häscher. Deutschland rotzt zunehmend selbstbewußt auf amerikanische Stiefel und kommt so eventuell auch zu einer Neubewertung des Vietnam-Krieges; eine offiziöse Aktualisierung des 68er Slogans "USA-SA-SS" dürfte wohl niemand überraschen. Die neuen Kennzeichnungen General Loans als "Henker" und "Mörder" durch seine früheren Anhänger verdeutlichen dies. Wenn in deutschen Zeitungen genüßlich erwähnt wird, Loan sei "lange und qualvoll an Krebs" gestorben (Tagesspiegel), gilt das nicht dem demokratischen Killer von Saigon, sondern dem Menschen, dem "Halbchinesen" im Status einer eigentlich erbarmungswürdigen Überflüssigkeit. Zynischer Sadismus, sadistischer Zynismus - wie auch immer, deutsche Kommentare zeichnen sich in dieser Hinsicht durch eine unheilbare Beständigkeit aus

Falls künftige Autoren eines Schwarzbuch des Kapitalismus dem wohlwollenden Rat liberaler Antitotalitaristen - "Nehmt den Henker aus Saigon, der paßt!" - folgen, sollten sie das Pulitzer-Preis-Foto zumindest durch fast zeitgleiche Aufnahmen von fanatischen Westberlinern mit ihren Transparenten - "Bomb North Vietnam" und "Politische Feinde ins KZ" - ergänzen