Virtueller Supermarkt

Das Internet entwickelt sich durch den e-Kommerz zu einem lukrativen Verkaufs- und Werbemedium

Das Internet boomt wie noch nie. Schätzungen zufolge nutzen 50 bis 70 Millionen Menschen weltweit das Internet - mit steigender Tendenz: Obwohl eine genaue Feststellung schwierig ist, rechnete man mit einem jährlichen Zuwachs von 30 bis 40 Prozent. Das Netz wird für ganz neue Gruppen interessant, die anfangs wenig davon wußten und noch weniger damit anfangen konnten. Und für Unternehmen bietet die immer größer werdende Surfer-Gemeinde die Möglichkeit, ganz neue Märkte zu erschließen. Das Internet ist dabei, sich massiv zu verändern.

Das Internet wandele sich "von einem Medium, an dem man teilnimmt, das auch die Interessen der Öffentlichkeit wahrnimmt, zu einem broadcast-Medium, in dem Konzerne konsumorientierte Informationen liefern. Interaktivität wird auf wenig mehr als Verkauf und e-mail reduziert", erklärt dazu der Kommunikationsforscher Frank Beacham. So ist es neuerdings auch möglich, den Fernseher ans Internet anzuschließen - ein Ausdruck dieser Veränderung.

Die Idee, das Internet als Verkaufs- und Werbemedium zu nutzen, ist nicht neu. Schon 1994 vermieteten größere Firmen wie IBM oder der Telekommunikationsriese MCI "Läden" in virtuellen Einkaufszentren, die als Anlaufstellen für Kunden im Netz konzipiert waren. Diese virtual malls setzten sich als Konzept nicht durch und wurden von der heute beliebten Variante der firmeneigenen, direkt anwählbaren Website verdrängt.

Diese Internet-Niederlassungen von Unternehmen sind in Formen und Angebot sehr unterschiedlich. Einige bieten nur Produktinformationen, eine Art Online-Katalog, der als kleine Ergänzung zum real existierenden Laden gedacht ist. Andere sind mit ihrem ganzen Angebot, inklusive Verkauf, Kundenbetreuung und Service im Netz, so zum Beispiel Dell Computers, deren täglicher Umsatz aus Internetverkäufen laut eigenen Angaben ungefähr eine Million US-Dollar beträgt. Manche kommerziellen Anbieter sorgen für Spiele oder sonstige Späße, um Nutzer dazu zu bringen, sich ihre Website anzuschauen - denn wer sieht sich schon ganz ohne Anreiz Werbung an?

Mit der steigenden Zahl der Internetanschlüsse wird auch deutlich, warum das Netz für Firmen so interessant ist: Wo könnten sie sonst so kostengünstig ein so großes Publikum erreichen? Gleichzeitig macht die wachsende Präsenz von Firmen das Internet wiederum auch für viele Nutzer interessanter. Vor allem in den USA werben Firmen mit Sonderangeboten, die nur im World WideWeb (WWW) zu haben sind. Die Fluglinie Northwest beispielsweise bietet bestimmte Billigflüge nur über ihre Website an.

Wahrscheinlich werden solche Sonderangebote auch in Deutschland bald die Regel sein. Die deutsche Internetbranche läuft der amerikanischen hinterher "wie der Esel hinter der Karotte", so Christoph Räthke, Mitarbeiter einer Berliner Internet-Beratungsfirma. In den USA ist der elektronische Kommerz schon König.

In einer Studie von den US-Unternehmen Ernst & Young und der National Retail Foundation gaben 32 Prozent der befragten Internet-Nutzer an, etwas im Netz gekauft zu haben; 64 Prozent informieren sich online über die Produkte, ziehen aber beim Kauf den Gang in den realen Laden vor; und 90 Prozent berufen sich beim späteren Kauf auf Informationen, die sie online bekommen haben. Das bedeutet zwar nicht zwangsläufig, daß diese Nutzer ihre Tätigkeit im Internet auf konsumorientiertes Surfen beschränken; wenn man aber die wachsenden Einklick-Zahlen von kommerziellen Websites im Auge hat, liegt der Schluß sehr nahe.

Der Erfolg von e-Kommerz und der Grund für diese Sonderangebote liegen an den Eigenschaften des WWWs, die es möglich machen, kostengünstig im Netz präsent zu sein. Das WWW bietet seinen NutzerInnen in Form von Websites im Prinzip kostenlose Niederlassungen an, die immer weiter entwickelt werden können. Das ermöglicht den Firmen Einsparungen, die sie in Form von niedrigeren Preisen an ihre Kunden weitergeben. Damit wird das WWW jedoch nicht nur für die großen multinationalen Konzerne attraktiv, sondern bietet auch kleinen, unbekannten Firmen große Möglichkeiten - ein wichtiger Vorteil von e-Kommerz gegenüber herkömmlichen Wirtschaftsstrukturen.

Ein bekanntes Beispiel ist Amazon. com, ein rein elektronischer Buchladen. Die virtuelle Firma fing mit nicht viel mehr als einer Website an; mittlerweile hat sie an mehr als zwei Millionen Kunden Bücher und Tonträger im Netz verkauft und schickt ihre Waren rund um die Welt. Die FirmengründerInnen benötigten wenig Startkapital: Sie hatten keine Miete zu bezahlen, brauchten nicht mal einen Grundbestand an Büchern - die meisten werden erst dann vom Lieferanten bestellt, wenn ein Kunde sie bereits von Amazon.com gekauft hat. Und weil die Firma durch das Netz so viel Kosten einspart, kann sie mit ihren Preisen trotz der Lieferkosten ihren KundInnen attraktive Angebote machen, oft besser als die von herkömmlichen Buchläden.

Die Möglichkeiten für kleine UnternehmerInnen, im Web ein Geschäft zu starten, werden jedoch durch das enorme Wachstum des elektronischen Kommerz begrenzt. Als Amazon.com startete, hatte es, wenn überhaupt, wenig Konkurrenz. In den letzten zwei Jahren drängten sich allerdings auch bereits etablierte Firmen ins Netz, die meist gegenüber neuen Unternehmen durch ihre bereits existierende Infrastruktur (und durch den bekannteren Namen) große Vorteile haben. "1998 wird sich der Markt polarisieren: Die Großen werden noch größer, und die Kleinen werden schrumpfen", glaubt Kate Delhagen, eine Markforscherin bei Forrester Research.

Die Auswirkungen von e-Kommerz auf den realen Markt sind noch nicht klar erkennbar. Es ist unwahrscheinlich, daß sich herkömmliche Geschäfte große Sorgen um die virtuelle Konkurrenz machen müssen, denn auch viele Internet-Nutzer ziehen letztendlich den Gang in den Laden dem Mausklick vor. Möglicherweise werden jedoch die Geschäfte, die keine Internetpräsenz besitzen, Nachteile gegenüber ihren ebenfalls real existierenden KonkurrentInnen haben, wenn diese über eine Website verfügen, auf der sich ein Kunde 24 Stunden am Tag über das Angebot und die Preise informieren kann.

Auch die Bedeutung für den Arbeitsmarkt ist noch schwer vorhersehbar, obwohl jetzt schon klar ist, daß Internetkenntnisse zunehmend gefragt sind. Internet-Läden brauchen aber meist weniger Personal als herkömmliche - auch das gehört zu ihren Einsparungen.

Ein Anzeichen für die Auswirkungen des e-Kommerz auf das Internet selber ist Goto.com, eine neue Suchmaschine, die ihre Ergebnisse nicht nach Relevanz ordnet, sondern danach, wieviel der jeweilige Betreiber an Werbegeldern bezahlt hat. Ob viele Nutzer eine so plumpe Werbeaktion den herkömmlichen Suchmaschinen vorziehen, ist zweifelhaft; wahrscheinlicher ist, daß andere Suchmaschinen dieses Konzept in veränderter Form aufgreifen.

Die großen Firmen möchten nichts lieber als Kontrolle über dieses weitgehend unkontrollierbare Medium haben. So stellte Robert McChesney in der linken US-Wochenzeitung The Nation 1997 fest: "Unter dem Motto 'Wer immer am meisten Geld hat, bestimmt den Kurs' hat sich das Internet dramatisch von seinem anfänglichen Versprechen einer unkommerziellen, nicht am Profit orientierten, offenen, unabhängigen öffentlichen Sphäre wegentwickelt. Die Medien-, Telekommunikation- und Computergiganten tun alles, um sicherzustellen, daß das Internet Teil ihrer Imperien wird."

Eine umfassende Kontrolle über das Internet bleibt nach wie vor unmöglich; dafür ist und bleibt das Netz zu groß und vor allem zu dezentralisiert. Durch die zunehmende Kommerzialisierung entfernt sich das Netz jedoch immer weiter von den ursprünglichen Hoffnungen, die mit seiner dezentralen Struktur verbunden waren - die Chance, einen einigermaßen herrschaftsfreien, internationalen und interaktiven Diskurs zu schaffen.

Langsam wird klar, daß ein Internetmonopol der Konzerne zwar nicht vollständig machbar ist, aber daß es trotzdem viele Möglichkeiten gibt, das Internet - sei es durch Suchmaschinen, Browser oder neue Technologien - zu manipulieren, und einer nichtkommerziellen Nutzung immer größere Hürden in den Weg zu stellen.