Spielverderber

Her mit dem Pokal, er ist uns!

Wer die Weltmeisterschaft in Frankreich für wichtig hält und warum. Oder: Wie wird Deutschland es diesmal schaffen, ins Finale zu kommen?

Wir schreiben das Jahr 1990. Tausende Fans bejubeln die "Helden von Rom" in der Frankfurter Innenstadt, denn Kaiser Franz hat den Fußball-Weltpokal nach Deutschland geholt. Die tanzende, schwarz-rot-goldene Masse erstürmt den Frankfurter Römerberg, "We are the champions!" schreit die Menge. In einem Meer von schwarz-rot-goldenen Fahnen und mit Pauken und Trompeten feiern Zehntausende Germanen den Sieg. Im Fahnenwald ist auch eine einsame Reichskriegsflagge zu sehen, die von grölenden Skinheads geschwenkt wird.

Das ganze Land vereinigt sich im Siegestaumel, die Ostdeutschen, obwohl sie offiziell noch nicht Teil der Bundesrepublik sind, dürfen im Namen der Barmherzigkeit mitfeiern. Einhundert Mark Begrüßungsgeld und Weltmeister im selben Jahr. Wunderbar! Acht Jahre später ist der Fahnenwald kräftig aufgeforstet worden, mit längst für ausgestorben gehaltenen Gewächsen. Unsere Brüder und Schwestern aus dem Osten fühlen sich im Jahr 1998 deutscher denn je zuvor in den letzten fünfzig Jahren.

Deshalb ist es keine Frage, der Pokal muß diesmal in die Hauptstadt, wo es an historischen Plätzen schließlich nicht mangelt, um dort die größte Party seit der letzten Love Parade steigen zu lassen. Das Motto "We are one family" hat für diese Volksraver allerdings eine andere Bedeutung: Nach vierzig Jahren schmerzhafter Trennung ist die Familie wieder zusammen, wenn auch jetzt eine Menge brauner Schafe zur Herde gehören.

Davor mußten sich die Sport-Fans aus so pittoresken Städtchen wie Schwedt und Magdeburg mit den nicht zu unterschätzenden sportlichen Erfolgen von Täve Schur und Marita Koch begnügen - nicht einmal der Vater der Nation, Erich Honecker, hätte es gewagt, die Friedensfahrt mit einer WM zu vergleichen. Die Kapitulation im WM-Halbfinale des Jahres 1934 bzw. im Viertelfinale von 1994 war eine bittere Pille für das Volk, zumal der Gewinn der Europameisterschaft im Jahr 1996 in England die verheerende Leere nicht ausfüllte.

Deswegen muß nun der Weltmeistertitel wieder her, eine Niederlage würde nationale Minderwertigkeitsgefühle nur noch vertiefen. Denn in der DDR galt: Nur der Sieg zählt, egal mit welchen Mitteln. Die altmodische Idee von einem Wettbewerb mit offenem Ende, in dem der Bessere mit Stil gewinnen wird, war unter Planwirtschaft, Doping, und Trainingslagern für begabte Kinder zu einem nostalgischen Luxus verkommen.

In Westdeutschland lassen sich die von Erfolg und Wohlstand verwöhnten Fans eher von den sportlerischen Qualitäten ihres Teams begeistern. Wie der Mercedes-Stern waren die Stars der Nationalelf immer ein Prestigesymbol, der Inbegriff der alten deutschen Tugenden Fleiß, Technik, Ausdauer und Zuverlässigkeit. Die westdeutsche Fußballmannschaft spiegelte das Wirtschaftswunder wider: Wie in der freien Marktwirtschaft entscheidet sich eben auch im sportlichen Wettbewerb, wer der Bessere ist - eine Niederlage der Nationalmannschaft in ansprechendem, wohlhabendem Ambiente und teurem Grundig-Fernseher anzusehen, mindert jeden Schmerz.

Die Frage bleibt, ob Westdeutschland seinen wiedergefundenen Brüdern und Schwestern, die sich zur Zeit nicht so wohlhabend fühlen, den erwartenden Sieg liefern kann. Der Einheitstrainer Berti Vogts weiß jedoch, was er tun muß, um den Traum zu erfüllen: Er fährt nach Frankreich mit so vielen Spielern aus der allerletzten westdeutschen Weltmeister-Mannschaft, der vom Jahr 1990, wie möglich. Nur Sieger wissen, wie man gewinnt.

Alte Männer wie Matthäus, Klinsmann, Köpke, Thon, Reuter, Möller und Kohler werden zum letzten Mal herausgerollt, um die pandeutschen Helden in dieser Tragödie zu spielen: Weinet nicht, Kameraden, eure ewige östliche Pechsträhne soll endgültig gestoppt werden. Die Zeit läuft aber gegen Vogts, er hat mit seinen Fußballrentnern nur noch diese eine Chance. Das Wirtschaftswunder ist längst vorbei, und in der Zukunft wird der hohe Anteil von Spielern aus dem Osten, die das Erfolgsgefühl nicht einmal als Kinder vorm Fernsehgerät erlebt haben, der Nationalmannschaft zur unerträglichen Last werden.

Zu Hause, mit mindestens 5 760 Minuten Fußballübertragung im Fernsehen und fast genauso vielen Bierflaschen und männlichen Besuchern, wird selbst die antipatriarchalischste Beziehung vier Wochen lang auf eine harte Probe gestellt. Viele Menschen haben mit der Fülle von Aufwärmspielen den Fußball-Sättigungsgrad allerdings jetzt schon erreicht: Nur noch 64 Spiele bis zur Tour de France und Jan Ulrich. Die britische Familienberatungsstelle Relate hat daher "Zehn Gebote" veröffentlicht, wie eine Beziehung während der Weltmeisterschaft in Frankreich zu retten sei: 1. Beide Seiten müssen Kompromisse eingehen. 2. Das Fernsehgucken muß in dieser stressigen Zeit streng geregelt sein. 3. Ein Tag Fußballgucken soll mit einem Tagesausflug mit der ganzen Familie wiedergutgemacht werden. 4. Es muß diskutiert werden, welche Spiele "unverpaßbar" sind. 5. Das Fernsehen muß mindestens einmal am Tag ausgeschaltet werden, um irgend etwas Schönes zusammen zu unternehmen. 6. Die Beziehung unter keinen Umständen während eines Spieles diskutieren. 7. Steh nicht vorm Fernseher, um Aufmerksamkeit zu gewinnen. 8. Trink nicht so viel. 9. Versuch einmal, deinen Partner mit derselben Leidenschaft anzugucken wie dein Team. 10. Wenn das alles nicht funktioniert, versuch dich für Fußball zu interessieren. Ansonsten kann man ja einkaufen gehen!

In England, der Heimat der Fußballwitwen, bietet die Supermarktkette ASDA ihren weiblichen Kunden Gesellschaft beim Einkaufen an: "Die weiblichen Kunden bei uns bekommen einen großen, gutaussehenden und muskulösen Mann als Begleitung und Einkaufswagenschieber, während der 100 Kilo schwere Ehemann vorm Fernseher mit einer Büchse Bier herumhängt", erklärte der Pressesprecher. Vor drei Jahren bot ASDA "Sex zwischen den Regalen" an: Sammelpunkte mit dem Namen "Love Spot" wurden in der Tiefkühlabteilung hergerichtet, wo alleinstehende Menschen sich beim Einkaufen kennenlernen konnten, denn schließlich ernähren sich diese fast nur von Fertiggerichten. Ein Ziehharmonikaspieler sorgten für die nötige romantische Stimmung.

Für romantische Stimmung im Trainingslager will auch Berti Vogts sorgen: Wie bei der Europameisterschaft in England dürfen die Frauen der Spieler mitreisen. Der Bundestrainer gehört zur Schule des israelischen Wissenschaftlers Alexander Olshanietzky, der weibliche und männliche Sportler, besonders Hochspringer und Sprinter, nach einem Orgasmus zu besseren sportlichen Leistung fähig hält. Von dieser revolutionären Strategie erwartet Vogts, daß seine Mannschaft höher springt und schneller läuft als jeder Gegner.