Körperpolitik

Freie Bahn für Thanatos

Singers deutsche Papageien sind flügge geworden.

"Ich bin nicht behindertenfeindlich", betonte Wolfgang Buschlinger. Der Philosophiedozent hatte im Wintersemester 1997/98 an der TU Braunschweig mit Rückendeckung durch den Präsidenten ein Proseminar zum Thema "Peter Singer - sein Standpunkt und dessen Rezeption in Deutschland" abgehalten.

Die Wogen der Empörung gingen hoch. Asta, Lebenshilfe und kirchliche Stellen sammelten mit dem "Braunschweiger Appell wider die tödliche Philosophie" rund 2 000 Unterschriften. Ein akademische Räsonieren über eine Philosophie, die die Tötung behinderter Kinder bis zu einem Monat nach ihrer Geburt anbietet, bewertete die Lebenshilfe als einen Angriff auf das Lebensrecht Behinderter. "Ich bin nicht behindertenfeindlich", wiederholte Buschlinger noch einmal. Wie könnte er auch?

"Singers Thesen und seine damit verbundenen Intentionen sind als solche keineswegs behindertenfeindlich", assistiert ihm Norbert Hoerster in seinem Bändchen mit dem Titel "Neugeborene und das Recht auf Leben", der sich nach der Lektüre in "Behinderte Neugeborene und die Pflicht zum Sterben" übersetzt. Die Schutzbehauptung erschien dem Mainzer Rechtsphilosophen wohl angeraten, will er doch selbst ausloten, ob nicht das universelle Lebensrecht mit den Mitteln einer analytischen Interessenphilosophie sich als regelrechte Zumutung für Behinderte erweisen könnte.

In seiner Schrift, die er seinem australischen Freund und Kollegen widmete, kommt er zu dem Ergebnis: "Singers Vorschlag einer Einmonatsfrist für den Beginn des Lebensrechtes würde auf Dauer nicht nur das Leben etwa behinderter, sondern das Leben aller Neugeborenen deutlich gefährden." Wozu sich aber so weit aus dem Fenster lehnen? Auch Singer hat bei der Legitimation des Infantizids nur die behinderten Kinder im Visier, weil er, wie er in der "Praktischen Ethik" schreibt, davon ausgeht, "daß die Eltern nicht wollen, daß das behinderte Kind lebt".

Selbstverständlich hat "der angesehene Rechtswissenschaftler Professor Hoerster" (Singer) keinerlei moralische Probleme mit der Radikallösung für eine Welt ohne Behinderte, die sein Mitstreiter kurzerhand ins Tierreich verschiebt. Hoerster ist vielmehr "im Ergebnis wie Singer der Auffassung, daß nur im Fall eines Wesens mit Ichbewußtsein und Zukunftswünschen - abgekürzt formuliert, im Fall einer 'Person' - hinreichende prinzipielle Gründe vorliegen, diesem Wesen ein eigenständiges Recht auf Leben (...) einzuräumen".

Doch bei den deutschen Bioethikern bleibt die "Person", eine nahe Verwandte der "Rasse", vorerst im Giftschrank. Es läßt sich auch feiner umschreiben, für welche Sorte Leben die politisch verknappten Mittel im Gesundheitsbereich eingesetzt werden sollen. Hoerster will dies allerdings noch nicht so recht glücken und spürt angesichts seiner Reanimation eines traditionsreichen Selektionskriteriums die öffentliche Faust im Nacken. "Natürlich gibt es so etwas wie 'lebensunwertes' Leben", schlägt Hoerster präventiv zurück. "Ich vermag keineswegs notwendig etwas Inhumanes oder Verwerfliches darin zu erblicken, über das Leben eines bestimmten Menschen zu sagen, es sei nicht 'lebenswert'!" Der gesunde Menschenverstand, der hier seine Muskeln spielen läßt, hat auch schon die Lebenswerttheorie parat. "Ein Leben mit dem Defizit einer Schädigung oder Behinderung (...) besitzt einen geringeren Eigenwert wie Fremdwert als ein Leben ohne dieses Defizit. (...) Eine Welt bzw. eine Gesellschaft ohne Krankheiten und Behinderungen beinhaltet ceteris paribus ein größeres Maß an Lebenswert und ist insofern besser als eine Welt bzw. eine Gesellschaft mit Krankheiten und Behinderungen."

Die professorale Weltdiagnose mahnt dringenden Handlungsbedarf an. Also einfach "die Summe des Schmerzes in der Welt durch einen Akt der Euthanasie verringern", damit die "Glückssumme im Universum" steigt, wie der "verehrte Kollege Singer" (Hoerster) ganz praktisch philosophiert? So auch nicht. Schließlich überfordert eine offensive Sortierungsstrategie ˆ la Singer, weiß Hoerster, "die geistige Kapazität eines Durchschnittsbürgers". Daher kürzt er die Frage, wann ein Säugling ein nachweisbares Lebensinteresse hat, ab und stellt fest: "Die Geburtsgrenze ist offenbar eine Grenze, die einen optimalen Schutz aller menschlichen Individuen, die bereits ein Überlebensinteresse haben könnten (!), sicherstellt."

Soviel Schutz darf sein, denn es gibt ja auch noch die "echte Sterbehilfe", die ein Arzt dem "schwer und unheilbar Leidenden" auf eigenen Wunsch gewähren soll. Da das Neugeborene nichts wünschen kann, entscheidet das elterliche Recht auf ein Wunschkind. Diese Entscheidung soll erst dann an Autorität einbüßen, wenn sie nicht dem "wohlverstandenen Interesse des Neugeborenen" dient. Das heißt: Eltern, die partout nicht einsehen wollen, daß "das weitere Leben des Neugeborenen (...) für ihn eine überwiegend negative Qualität besitzt, also von ihm alles in allem nicht als lohnend, sinnvoll oder lebenswert empfunden werden kann", soll das Vormundschaftsgericht zur Vernunft bringen.

Zwar will die Zivilgesellschaft bei der Exekution ihrer tödlichen Hilfsbereitschaft eigentlich nicht so sehr auf den invasiven Staat vertrauen; wer aber seine gesellschaftlichen Pflichten nicht kennt, bekommt halt doch etwas mehr Staat zu spüren, als es dem bioethischen Ideal des "informed consent" entspricht. Ob der Säugling also im Sterben liegt oder nicht, ist Hoerster egal. "Es gibt auch Leidenszustände (etwa infolge einer Behinderung), die zwar nicht lebensgefährdend, aber trotzdem unerträglich und auf Dauer unzumutbar sind. Auch in diesen Fällen muß es zulässig sein, den Tod des Betroffenen (...) herbeizuführen."

Im Bestreben, die Welt durch "einen unter Wertgesichtspunkten legitimen Austausch bzw. Ersatz von Lebewesen (...) im Einklang mit den Interessen aller Betroffenen zu verbessern", sublimiert Hoerster noch jede moralische Regung, um Thanatos freie Bahn zu geben: Wie "vor Naturkatastrophen - wie Erdbeben, Wirbelstürmen und Überschwemmungen" - müsse man sich gegen die "naturgegebenen Krankheiten und Behinderungen" schützen dürfen. Als beste Prävention gegen menschliche "Naturkatastrophen" empfiehlt Dr. Hoerster moderne Pränataldiagnostik und "eugenische Auswahl" bei denjenigen Neugeborenen, denen er ein Lebensrecht nicht zugestehen will.

Beihilfe zur publizistischen Strafexpedition gegen nicht-normgerechte Neugeborene kommt aus den eigenen Reihen. Der Jurist Reinhard Merkel, der als Zeit-Redakteur während der Singer-Affäre dessen Werbebüro in den Redaktionsräumen der Wochenzeitung leitete und heute Privatdozent in Saarbrücken ist, durfte vor zwei Jahre seine wohlabgewogenen Überlegungen, angesichts welchen niedrigen "Lebenswerts" sich das individuelle Lebensrecht in eine "Zwangsgewährleistung" verwandle, im Mittelweg vorstellen: "Quälende physische Zustände oder Maßnahmen, die von keiner Einsicht des Patienten in ihre Dauer bzw. ihre Erforderlichkeit begleitet sein können und denen keinerlei 'belohnende' Kompensation während des gesamten noch erwartbaren Lebens durch die Aussicht auf Besserung entspricht, sind einem schwergeschädigten Neugeborenen nicht zumutbar. Die richtig verstandene Notstandsabwägung sollte hier Entscheidungen, die das Kind durch die vielfachen Torturen der technisierten Lebenserhaltungskunst in eine kurze Existenz auswegloser Qualen zwingen, strikt verbieten."

Der hier angesichts der zunehmenden Überlebenschancen schwerbehinderter Neugeborener so wortreich den Notstand ausruft, ist auch ein von Singer hochgeschätzter Autor. Bereits 1991 hatte Merkel in dem Suhrkamp-Band "Zur Debatte über Euthanasie", dem "wohl besten Buch über die derzeitige Debatte in Deutschland" (Singer), angemerkt, daß sich im Bereich der Euthanasie "auch die Strafrechtsdogmatik offen und zustimmend auf die noch immer etwas bekenntnishaft abgelehnten Entscheidungskriterien 'Lebensqualität' und '-quantität' einlassen muß."

Wie aber die geltende Gesetzeslage mit den wiederauferstandenen Entscheidungskriterien in Einklang zu bringen sei, daran arbeitete Merkel damals noch. "Lösungen habe ich - jedenfalls derzeit - keine vorzuschlagen." Das änderte sich bald. So konnte Merkel im Mittelweg seinen juristischen Schleichpfad zur Aufhebung des allgemeinen Lebensrechts vorstellen, ohne sich am Grundgesetz die Zähne auszubeißen. Das Lebensinteresse eines Menschen, stellte er dazu fest, könne von einem "Leidvermeidungsinteresse" aufgewogen werden. Die Abwägung dieser Interessenskonstrukte müsse darum im strafrechtlichen Bereich des Notstands stattfinden, um trotz eines repressiven ethischen Universalismus moralisch handeln zu können.

Wie das nun konkret auszusehen habe, macht Merkel mit Rekurs auf Ronald Dworkin deutlich. 1994 hatte der US-amerikanische Rechtsphilosoph in einer klaren und gewinnenden Art gezeigt, wie man eine Ethik aus dem Kategoriensystem der Volkswirtschaftslehre entwirft. Führten etwa naturschöpferische und humankreative Investitionen im Falle eines behinderten Neugeborenen nicht zu einem bilanzierbaren Erfolg, erschien Dworkin dessen Tötung angezeigt.

Von ihm leiht sich Merkel die Begriffe eines "erlebensbezogenen" (experiental) und eines "wertbezogenen" (critical) Interesses, um die verschiedenen Existenzformen zu hierarchisieren: "Ein schwerkranker, entscheidungsunfähiger Erwachsener mit einer verbleibenden Lebenserwartung von, sagen wir, zehn Monaten hat ein Recht auf Berücksichtigung aller seiner 'critical interests' bei der Frage, ob sein Leben bis zum letzten möglichen Atemzug zu erhalten ist oder nicht. (...) Bei einem schwerstgeschädigten Neugeborenen mit der gleichen zehnmonatigen Lebenserwartung und vielleicht ähnlichen klinischen Symptomen verhält sich dies gänzlich anders. Hier kommen andere als 'experiental interests' nicht in Betracht. Schmerzen und Leiden, die durch die Krankheit oder durch therapeutische Maßnahmen verursacht werden und die im Fall des moribunden Erwachsenen nichts an der zwingenden Indikation einer lebenserhaltenden Behandlung ändern mögen, können im Fall des Neugeborenen vollständig unzumutbar sein und damit die gebotene Abwägung in genau umgekehrtem Sinn wie im ersteren Fall entscheiden."

Diesem tödlichen Liberalismus frönt auch der Bad Homburger Bioethiker Anton Leist, der in Zürich die Arbeits- und Forschungsstelle für Ethik (AFE) leitet. Im Zentrum seiner Theorie steht das Autonomieprinzip. Die Menschen sollen über ihr Leben und Sterben selbst entscheiden können. Aus diesem konsensträchtigen Minimalprogramm will Leist bewegliche Kriterien entwickeln für die Entscheidung über "Menschen, die nie in der Lage waren, selbständig zu denken". Gerade ihnen gegenüber, denen nach der reinen Lehre "der eigentliche Wertgegenstand der menschlichen Achtung" fehlt, soll sie sich bewähren. Darum darf, anders als bei Singer, der "aktuelle Zustand, in dem sich die Fähigkeiten eines Menschen befinden, keine so entscheidende Rolle" spielen, schreibt Leist im Sammelband "Anfang und Ende des Lebens", der 1997 am Salzburger Forschungsinstitut Philosophie / Technik / Wirtschaft erschien.

Leist will beim Menschen nicht nur Zeitgefühl und Selbstbewußtsein bewundern, sondern "vielfältige Fähigkeiten". Im Grunde wird das prominente "Person"-Konstrukt nur etwas großzügiger gehandhabt. Angesichts "vegetativer" Existenzen kann der Philosoph, der mit seiner Autonomielehre angetreten war, den Menschen aus den Zwängen des Paternalismus zu befreien, nur noch gleichgültig mit den Achseln zucken. Schließlich ist dieser Position zufolge "das menschliche Leben nur darin 'menschlich', daß es typisch menschliche Fähigkeiten entwickelt. Ein Leben, das permanent und unkorrigierbar auf diese Fähigkeiten verzichten muß, ist nicht mehr wert, gelebt zu werden." Wie Hoerster und Merkel bleibt auch Leist bei der analytischen Bestimmung, wann ein Mensch ein Mensch ist, jenem Essentialismus verhaftet, der den unüberwindlichen Graben zwischen einer rohen Natur und der edlen Kultur aushebt.

Die Bioethik interessiert nicht die unheilvolle Dialektik eines dahinrasenden medizintechnischen Fortschritts oder die Marktideologie im Krankenbett. Die polit-ökonomischen Ursachen der vielbeschworenen Ressourcenknappheit zu attackieren, erschiene ihr als anachronistisch. Sie übersetzt sich diese Schieflagen einfach in ein ethisches Dilemma am Lebensende bzw. -anfang.

Die Bioethik will "Fälle" lösen, nicht deren Zustandekommen im sozialen Raum analysieren. Damit werden die komplexen Probleme im Spannungsfeld von Medizin und Ökonomie wenigstens überschaubar. Sie reduzieren sich auf den abschätzenden Blick des Spezialisten auf den Menschen, auf seine Konstitution, seine Fähigkeiten, seine genetische Ausstattung.

Diese Frohbotschaft ist im neuen Deutschland inzwischen angekommen. Heute wird nicht mehr nur in Fachzirkeln darüber getuschelt, daß sich die Lebenserhaltung von Menschen wieder rechnen muß. Für den Menschen selbst, aber auch - das muß nicht thematisiert werden, um mitgedacht zu sein - für die Gesellschaft. Singer, weil er so zuverlässig souffliert hat, ist heute überflüssig. Die deutschen Bioethiker haben gelernt, differenzierter zu argumentieren und den platten Utilitarismus durch eine Verantwortungsrhetorik zu ersetzen, die alle Aussichten hat, den Druck der neoliberalen Strukturanpassung im Gesundheitswesen erfolgreich nach unten weiterzugeben.