Prolls in Boomtown

Arbeiterroman im Zeitalter der Globalisierung: Thomas Kellys New York-Kolportage "Boomtown Blues"

Es ist bereits mehrfach leidvoll festgestellt worden, daß der Proletarier nicht so ist, wie man ihn gern hätte. Zum mangelnden Klassenbewußtsein gesellen sich nicht selten Rassismus und Sexismus; richtige und grundfalsche Einstellungen liegen in der Milieukneipe oft nur ein paar Biere voneinander entfernt. Wer da Widersprüchliches in Angriff nimmt, haut mitunter ganz schön daneben: "Er wollte die Hand zur Faust ballen und ihr ins Gesicht schlagen, stellvertretend für die Gesichter aller reichen Arschlöcher auf diesem Planeten. (Ö) Statt dessen erkor er seinen Schwanz zum Instrument der Bestrafung. Er bestieg sie ungestüm und fickte sie, bis sie beide erschöpft dalagen."

Der da so männlich seine Klassenherkunft gegen eine verzogene Oberschicht-Göre behauptet, ist Billy, die - von einigen Ausrutschern abgesehen - als moralisch hochinteger konzipierte Hauptfigur aus Thomas Kellys "Boomtown Blues". Schauplatz ist New York gegen Ende der Achtziger, und die Rede ist von einem Kapitalismus, der gerade dabei ist, sich vom überschaubaren und ehrlichen Ausbeuter-Kapitalismus hin zu einem mafiotischen Kleptomanismus zu wandeln, in dem die Gruppe der Profiteure nicht mehr um jeden Preis mit der der Kapitaleigner kongruent ist. Der Karfiol-Trust ist in diesem Fall die Immobilienmafia, deren legaler Arm den illegalen beschäftigt, um die Arbeiterschaft mit Zwang und Einschüchterungen gefügig zu machen; deren illegaler Arm den legalen um Schutzgeld erpreßt - eine Win-win-Situation für die Brothers in Crime, in der gewöhnliche Arbeiter nichts und Gewerkschaften erst recht nichts mehr zu melden haben.

"Daran ist nur Reagan, dieses Arschloch, schuld", sagt Billy, und hat damit vermutlich nicht unrecht. Sicherheitsbestimmungen sind in diesem Szenario genauso Makulatur wie Tariflöhne, der Dow Jones-Index klettert auf 2000 Punkte, und als die Paten beginnen, die traditionell irisch-stämmigen Bauleute gegen billige Import-Arbeitskräfte aus Polen einzuwechseln, drohen selbst die spärlichen Überbleibsel an einstmals schlagkräftiger Arbeitnehmer-Solidarität einem unverhohlenen Rassismus zu weichen. Kommt einem das nicht irgendwie bekannt vor? Richtig: New York ist Berliner Großbaustelle ist überall. Während der tapfere Billy nun aber die Zähne zusammenbeißt und beim Tunnelbau sein Leben aufs Spiel setzt, nicht nur um das in Aussicht gestellte Jurastudium zu finanzieren, sondern auch aus einer perversen Freude an knüppelharter und gefährlicher Knochenarbeit, und jede verbleibende freie Minute in die Gewerkschaftsarbeit investiert, mischt sein Bruder Paddy kräftig im Bandenwesen mit und liefert sich eine tarantinoeske Schießerei nach der anderen.

Nicht, daß die Brüder bei der Geburt getrennt worden wären: Beide sind sie im ehedem irisch dominierten Bronx-Milieu aufgewachsen, wo die Männer unglaublich viel trinken, nach "Old Spice" riechen und "Fotzen" sagen, wenn sie Frauen meinen. Allerdings war der ältere Paddy in Vietnam, und das erklärt einiges, wenn nicht alles. Während der eine also kräftig austeilt ("Ich war sowieso die ganze Zeit wütend. Wenn mir einer nur den geringsten Vorwand geboten hat, habe ich losgeprügelt"), trägt der andere seine eigenen Konflikte aus. Den Kumpels unter Tage gilt er als karrieregeiler Klassenverräter, der seine Herkunft verleugnet; den zukünftigen Kommilitonen mißfällt er als Emporkömmling mit einem offenkundigen Mangel an ökonomischem und kulturellem Kapital.

Paddy legt sich aus Versehen mit dem obersten Bandenchef an und soll aus dem Weg geräumt werden.Um seine Haut zu retten, veranstaltet er ein riesiges Gemetzel unter dessen Gefolgsleuten, seinen Verfolgern; der kleine Bruder Billy wird als Faustpfand in die Sache hineingezogen und - Showdown! - rettet seinen Bruder und sich selbst mit einem finalen Rettungsschuß. Die schwangere FBI-Agentin darf am Schluß nur noch die Leichen der Bösewichte wegräumen.

Die Katharsis ist dergestalt, daß sogar dem Casino-Kapitalismus ein Stüber verpaßt wird; letzter Satz: "In diesem Herbst fielen mit den Blättern die Aktienkurse, und die Kräne waren so schnell wieder verschwunden, wie sie gekommen waren." Was als Milieustudie aus der irischen Arbeiter-Halbwelt New Yorks anhebt, muß spätestens ab der zweiten Hälfte durch das Nadelöhr des hollywoodkompatiblen Action-Thriller-Plots; gipfelnd in der standardisierten Ganoven-Spielteorie, bei der letztlich nur zählt, wer wen in Schach hält und wie viele Kugeln noch im Magazin sind. Vielleicht ist das die Kehrseite des amerikanischen Erzählen-Könnens, daß jeder noch so widerspenstige Stoff auf Biegen und Brechen ins Bestsellerkorsett gepreßt wird. Vielleicht braucht die "gute Sache" eine derart gefällige Verpackung; wobei sich allerdings die Frage nach der Zweck-Mittel-Relation aufdrängt: Schiebt hier der Autor, der, wie wir aus dem Klappentext erfahren, große Übereinstimmung mit seiner Figur aufweist, dem populären Erzählmuster die zersetzenden Inhalte unter? Oder nobilitiert er seine dürftige Erzählung mit vorgeschützter oder auch empfundener Empathie für eine marginalisierte Gruppe, die augenblicklich literarisch so dankbar ist, weil sie bislang kaum Anwälte in der Populärkultur hat? Wie auch immer. Das lang absehbare Happy-End und die ungebrochen vorbildliche Hauptfigur, die sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf von sozialer Herkunft und Prädisposition zieht, bewirken, daß der Roman weniger zum Pop tendiert, auch kaum in die Nähe der Vorbilder von "noir" und "hardboiled", sondern mehr hin zum Kitsch - zum realsozialistischen, sozialrealistischen Linkskitsch plus Anleihen an Jüngers "Arbeiter"-Heroisierung, die beide nicht einmal mehr als "campy" zu retten sind.

Woraus Kelly indes kein Vorwurf zu machen ist. Ganz im Gegenteil. "Boomtown Blues" ist die ungeschönte Kolportage eines proletarischen Jargons, wie er rührender, beknackter und ressentimentgeladener kaum sein könnte. Wie Frank McCourt auf dem Umschlag zitiert wird: "Es ist die Sprache von Männern und Frauen, die glauben, stets ihr Gesicht wahren zu müssen und über Liebe nur in Form obszöner Sprüche reden können." Zwar sind es eigentlich nur Männer, die das glauben; deren vor Testosteron strotzender Slang, authentisch niedergelegt und passabel übersetzt, macht das Buch, allem Verdruß zum Trotz, zu einem reizvollen Kuriosum. Selbst der analytische Kapitalfehler, die lehrstückhafte Verkürzung der Erzählung vom robusten Kapitalismus auf eine Räuberpistole, ist damit nachgesehen.

Der Dow Jones-Index, das nur zur Information, steht inzwischen bei über 8 000 Punkten, was einen historischen Rekord markiert.

Thomas Kelly: Boomtown Blues. Limes, München 1998, 384 S., DM 44