Manifest der Trägheit

Veränderte Arbeitsverhältnisse, Globalisierung und Ende des Klassenkompromisses: Die neue "Supergewerkschaft" bietet keine Antworten auf drängende Fragen

Am Vorabend des 150. Geburtstages des "Kommunistischen Manifests" verkündeten die Spitzen von sechs Gewerkschaften, daß sie zur Jahrtausendwende eine einheitliche Organisation für den Dienstleistungsbereich sowie für den Medien-, Kultur- und Bildungsbereich schaffen wollen (vgl. Jungle World, Nr. 8/1998). Die Gewerkschaften Handel, Banken und Versicherungen, Postgewerkschaft, IG Medien, ÖTV und Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sowie die nicht zum DGB gehörende Deutsche Angestelltengewerkschaft sind an der Fusion beteiligt.

Die Eisenbahnergewerkschaft ist - wie zuvor bereits die Gewerkschaft Nahrung, Genuß, Gaststätten (NGG) - ausgestiegen. Beide Gewerkschaften beteuern zwar, daß sie eigenständig bleiben wollen. Doch die NGG zieht es es nach Hannover zur IG Bergbau, Chemie, Energie, um die Eisenbahner buhlt die IG Metall. Und ob die GEW noch weiter mitziehen wird, bleibt offen: Einen Tag nach Bekanntwerden des Plans sagte die GEW-Vorsitzende Eva Maria Stange, sie wolle keine Mammutgewerkschaft, werde sich aber weiter an der Diskussion um die Neustrukturierung der Gewerkschaften beteiligen.

Zu den Motiven der entstehenden "Supergewerkschaft" heißt es in der Präambel der "politischen Plattform", die Arbeitsbeziehungen seien einem "tiefgreifenden Strukturwandel" unterzogen. Von den Gewerkschaften werde erwartet, daß sie den Veränderungsprozeß mitgestalten und positiv beeinflussen. Ihre Zukunft werde sich an der Frage entscheiden, ob es gelingt, die "immer differenzierter werdenden Interessen" der Beschäftigten angemessen zu erfassen und sachverständig durchzusetzen.

Von den beteiligten Gewerkschafts-Vorsitzenden wurde jedoch nicht reflektiert, daß die Einheit der deutschen Gewerkschaftsbewegung im historischen Kontext vollzogen wird. Wie sollten sie auch, findet doch Gewerkschaftsarbeit weitgehend im ideologischen Leerraum statt. Oder vielleicht doch nicht. Ähnlich wie die Sozialdemokraten aus ihrer Urangst, als "vaterlandslose Gesellen" zu gelten, eine Schandtat nach der anderen mitmachen, betätigen sich die Gewerkschaften als Feuerwehr des Kapitalismus. Dabei ist ihnen längst das Löschwasser ausgegangen. Je mehr es den Konservativen im Bündnis mit dem Kapital gelungen ist, eine ideologische Dominanz zu erringen, desto mehr paßten sich die Gewerkschaften an. Keine einzige schlüssige politische Antwort bieten sie auf drängende Fragen: Konkurrenz zwischen den Einzelgewerkschaften soll aufgehoben, Bewährtes gewahrt und Raum für neue Perspektiven geschaffen werden. So geht es seitenlang weiter.

Daß sich die Welt immer weiterdreht, ist so neu nicht: "Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. (...) Das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnten Absatz für ihre Produkte jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel. (...) Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen", hat Marx im "Manifest" festgestellt. Mit offenen Augen sind die Gewerkschaften in die Globalisierungsfalle getappt. Sie haben verschlafen, daß durch den Wegfall der Systemkonkurrenz das Kapital hemmungsloser agiert und den sogenannten historischen Klassenkompromiß aufgekündigt hat. Die Frankfurter Rundschau - mitunter als inoffizielles Zentralorgan der Gewerkschaften gesehen - widmete dem Geburtstag des Manifests eine ganze Seite. "Die Analyse der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer Entwicklungsdynamik hat von ihrer argumentativer Kraft wenig eingebüßt", schrieb Karl Grobe.

Weil sich die Gewerkschaften aber weniger mit der Analyse des real existierenden Kapitalismus beschäftigten, haben sie auch vergessen, ideologisch auf die Globalisierung und die veränderte Binnenstruktur von Beschäftigungsverhältnissen zu reagieren. Einer der Gründe, warum sie so schwerfällig sind, ist das gewerkschaftliche Berufsbeamtentum - sprich der hauptamtliche Apparat. Weniger Mitglieder bedeutet weniger Geld in der Kasse und weniger Gewerkschaftsbeschäftigte. Gewerkschaftliche Einheiten wurden hin und her geschoben, auf Orts-, Bezirks- und Länderebene wurde fusioniert. Für viele Funktionäre ging es dabei um die Sicherung der eigenen Existenz. So sind auch seit zehn Jahren immer mehr gewerkschaftsfreie Zonen entstanden.

Es bleibt abzuwarten, ob der geplante Zusammenschluß von der Basis mitgetragen wird. Durch die Selbstauflösung der sechs Gewerkschaften soll etwas völlig Neues entstehen. "Für die an Zentralität gewöhnten Gewerkschaften bedeutet dies ein Umdenken, und zwar mit dem Mut zur Dezentralität" sagt IG Medien-Vorsitzender Detlef Hensche. Die spannende Frage ist aber, ob die Mitglieder das Angebot auch annehmen oder ob letztlich ein paar Gewerkschaftstechnokraten ein Kunstgebilde schaffen.