Tarifbausteine erden

Die Konzeptlosigkeit des DGB begünstigt einen Betriebssyndikalismus

"Wenn die Arbeitswelt sich wandelt, müssen sich nach Ansicht des IG Metall-Tarifexperten Walter Riester auch die Tarifverträge wandeln. Die IG Metall darf der Wirklichkeit nicht hinterherlaufen." So begann im November 1997 eine Pressemitteilung der IG Metall. Inzwischen hat die Gewerkschaft die Wirklichkeit eingeholt.

In der vergangenen Woche tagte in Frankfurt am Main der Beirat der IG Metall - das höchste Organ zwischen den Gewerkschaftstagen -, um über mögliche Modelle zur Reform des Flächentarifvertrages zu beraten. IG Metall-Chef Klaus Zwickel forderte, Tarifbausteine zur Regelung neuer Probleme müßten ebenso möglich sein wie die Erweiterung der bisherigen Flächentarifverträge durch Zusatz-Tarifverträge in einzelnen Firmen. Je nach Situation und Thema müsse die IG Metall für beide Optionen offen sein. Das bisherige System der Flächentarifverträge müsse auch weiterhin durch Anerkennungs- und Firmentarifverträge ergänzt und durch betriebliche Zusatztarifverträge erweitert

werden. Einer Verlagerung der tarifpolitischen Kompetenz von der Gewerkschaft auf die Betriebsräte erteilte Zwickel eine Absage.

Genau an der "Schnittstelle betriebliche Kompetenz" zeigt sich, wie obsolet schon heute der Flächentarifvertrag ist. Durch eine Vielzahl von Betriebsvereinbarungen hat das für alle Beschäftigten einer Branche gleiche Regelwerk Löcher bekommen. Jedem Betriebsrat ist die "eigene" Firma näher als die Frankfurter IG Metall-Zentrale. Herbert Wischek, Betriebsratsvorsitzender bei Buderus-Heiztechnik in Lollar/ Hessen, bringt es auf den Punkt: "Wir begreifen den Flächentarifvertrag als wichtiges Sicherungsgesetz, Betriebsräte sind keine Helden. Irgendwann knicken auch die Standhaftesten ein, denn die Nötigungsversuche der Arbeitgeber werden immer dreister." Um nun diese Nötigungsversuche abzuwehren, versucht die IG Metall die Quadratur des Kreises: Sie sagt ja zur betrieblichen Logik und nein zur Verlagerung der tariflichen Kompetenz von der Gewerkschaft zu den Betriebsräten.

Die baden-württembergische IG Medien-Vorsitzende Sybille Stamm kommentierte den Tarifabschluß in der Druckindustrie lakonisch : "Ich haben keinen gefunden, der für die Ablehnung des Tarifergebnisses plädiert hat, aber auch keinen, der den Abschluß gut fand." Eine solche Haltung könnte als Indiz für die Orientierungslosigkeit der Funktionäre der IG Medien gewertet werden, meint das Hamburger IG Medien-Mitglied Hermann Dilg: "Eine bundesweite Urabstimmung hätte deshalb auch zu dem Ergebnis führen müssen, daß auf allen Stimmzetteln sowohl Ja als auch Nein angekreuzt wäre. Damit wären zwar alle Stimmzettel ungültig gewesen, hätten aber die ambivalente Haltung unterstrichen."

Thomas Löffelholz, Chefredakteur von Springers erzkonservativer Welt bescheinigt den Gewerkschaften Reformfähigkeit: Betriebliche Öffnungsklauseln, Ungleiches Ost/West-Lohnniveau und untertarifliche Einstiegslöhne für Langzeitarbeitslose wertet er als "ermutigende Signale" für den von Bundespräsident Herzog geforderten Ruck, der durch die Republik gehen müsse. Der IG Medien zollt Löffelholz sogar besonderen Beifall: Sie, die als besonders harte Gewerkschaft gilt, "warf ihre gewaltigen tarifpolitischen Forderungen ohne Federlesens auf den Müllhaufen der Geschichte und akzeptierte statt dessen, daß der Samstag sechster Arbeitstag wurde".

Was Löffelholz hier vollführt, ist fast schon ein Geniestreich: Mangels Durchsetzungskraft schluckt eine Gewerkschaft Kröten - und der Welt-Redakteur führt dies als Beleg für die besondere Reformfähigkeit der Gewerkschaft an. Soweit sind Gewerkschaftsfunktionäre noch lange nicht. Wenn es um Ehrlichkeit geht, haben alle ihre liebe Mühe. So gehört es zur Tradition von Tarifverhandlungen, daß hinterher der miese Abschluß erst beweint - "mehr war angesichts der schwierigen Materie nicht rauszuholen" - und dann nach Abwägung aller Unwägbarkeiten schöngeredet wird. Doch neuerdings nähern sich die Funktionäre der Löffelholzschen Umdeutungstheorie und reden selbst von der Notwendigkeit der Reform der Flächentarifverträge.

Auf einer tarifpolitischen Konferenz des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) Ende letzten Jahres in Königswinter stellte DGB-Vorstandsmitglied Michael Geuenich fest, daß die gegenwärtige Tarifpolitik aus Sicht der Arbeitgeber "viel eher" eine Erfolgsgeschichte sei als aus Sicht der Gewerkschaften. Dann beklagte er, daß es den im DGB zusammengeschlossenen Mitgliedsgewerkschaften an einer "in sich geschlossenen Strategie" fehle. Statt dessen werde eine "pragmatische Tarifpolitik mit kurzfristig ausgerichteten Problemlösungen" verfolgt. Zwar hätten die Gewerkschaften erkannt, daß kürzere Arbeitszeiten ohne flexible Arbeitszeitregelungen nicht zu haben seien und Lohndifferenzierungen durchaus einen beschäftigungspolitischen Effekt haben können. Dennoch werden "Branchenfenster und Tarifbausteine" nicht zu einem umfassenden Konzept zusammengeführt.

Auf der tarifpolitischen Konferenz der IG Metall im letzten November in Darmstadt äußerten viele Diskussionsteilnehmer die Befürchtung, daß mit der Reform des Flächentarifvertrages die Preisgabe von Gewerkschaftserfolgen einher gehe. Aus fast allen Redebeiträgen war rauszuhören, daß das Wort "Reform" bei den IG Metall-Mitgliedern in Mißkredit geraten ist: Es wird mit Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und Lohnverzicht gleichgesetzt. Im Vorfeld der Tarifkonferenz zirkulierte in der IG Metall ein unveröffentlichter Untersuchungsbericht (siehe Dossier "In eins nun die Hände", Jungle World, Nr. 41/97). Von Betriebsräten und gewerkschaftlichen Vertrauensleuten wurde nicht nur die Unterschreitung gültiger Tarifnormen, sondern auch die schleichende Suspendierung von Prinzipien, die den Tarifnormen immanent sind, kritisiert: "Mit der tolerierten Konzessionspolitik in den Betrieben erodiert auch der soziale Gehalt der Tarifverträge."

Die Autoren Bergmann/Bürckmann/ Dabrowski kommen zu dem Schluß, daß ein "untrügliches Krisensymptom" auch die "Begriffe und ihre Semantik" seien, mit denen die öffentliche, aber auch die innerorganisatorische Diskussion über den Flächentarif geführt wird. Die IG Metall reagiere nur defensiv und läßt sich von den Arbeitgeberverbänden die Problemdefinition vorgeben: "Daher bleibt ihre Argumentation in allen wesentlichen Momenten der neoliberalen Hegemonie verhaftet." Anstatt daß die IG Metall nun umsetzt, was programmatisch verkündet wird - nämlich daß Tarifverträge für gleiche Wettbewerbs- und geregelte Arbeitsbedingungen sorgen, predigt "Modernisierer" Riester weiter von "Tarifverträgen ˆ la carte".

Angesichts der Konzeptlosigkeit aller Gewerkschaften - das Problem betrifft nicht nur die IG Metall - ist zu befürchten, daß es in der Bundesrepublik über kurz oder lang zu einem Betriebssyndikalismus ähnlich dem der amerikanischen Gewerkschaften kommt.

Der einzige, der zur Zeit den Überblick behält, scheint Chefkommentator Hans Mundorf vom Handelsblatt zu sein. Er wird fast schon zum Gewerkschaftsfreund, wenn er den Unternehmern ins Stammbuch schreibt: "Wollen Sie wirklich auch noch auf dem Feld der Tarifpolitik die Konkurrenz zueinander aufbauen?"