Satt, sauber und endlich wieder still

Wer Pflegefall wird, ist immer noch gearscht: Die Kosten werden zum Hauptfaktor

Berthold M. ärgert sich über das lauwarme Essen, Katharina S. darüber, daß "die Heimleitung bestimmt, wer was eingekauft bekommt", und Gertrud Sch. kommt mit dem ständig wechselnden Personal nicht klar. Auch wenn die drei über ganz Bremen verteilt in Alten- und Pflegeheimen ganz verschiedener Träger leben, haben sie im Kern das gleiche Problem: Sie können ihre Kritik nicht loswerden. Denn spätestens seit der Einführung des Pflegeversicherungsgesetzes (PflegeVG) 1995/96 haben Alte, die stationär untergebracht werden müssen, weil sie pflegebedürftig sind, keine guten Karten, wenn sie ernstgenommen werden wollen. Wie heißt es doch gleich im ersten Paragraphen über Sinn und Zweck sozialer Dienstleistungen? Sie seien dazu da, das "Risiko sozial abzusichern" - das finanzielle Risiko, krank zu werden. "Von selbständiger und selbstbestimmter Lebensführung oder menschlichen Bedürfnissen ist nirgendwo die Rede", sagt Roland Bauer, Lehrstuhlinhaber für lokale Sozialpolitik an der Uni Bremen und Initiator einer jüngst veröffentlichten Studie über die Qualität sozialer Dienstleistungen.

Mit dem Prinzip Sozialstaat habe das nichts mehr zu tun. Oder konkreter: "Es ist kein Wunder, wenn die Professionellen die Bewohnerinnen und Bewohner von Alten- und Pflegeheimen nicht als Subjekte sehen, sondern als Objekte, die sie klientelisieren und verwalten müssen." Und wenn die drei S des mit der Enthospitalisierung der letzten großen "Siechenheime" aus DDR-Zeiten überwunden geglaubten Verwahrprinzips fröhliche Auferstehung feiern. Denn satt, sauber und vor allem still - genauso wünschen sich die Heime ihre Pflegebedürftigen.

So gibt es in jeder zweiten der von Bauer untersuchten Einrichtungen in Bremen - eine repräsentative Auswahl von verschieden großen Heimen konfessioneller, nichtkonfessioneller und gewerblicher Träger - keine institutionalisierte Anlaufstelle für BewohnerInnen, die eine Beschwerde vorbringen wollen. Und das soll auch nicht geändert werden.

"Ein Meckerkasten hat doch Kindergarten-Niveau", antwortete die Leiterin eines nichtkonfessionellen Kleinheims. Einer ihrer konfessionell gebundenen Kollegen polemisierte sogar, die Probleme der Alten seien doch gar nicht ernst zu nehmen: "Wir können doch nicht jedem sein Lieblingsessen kochen." Das Bild, das die Befragten sich von den Pflegebedürftigen machten, faßt Bauer zusammen, "reicht offenbar von ernstzunehmenden Nutzerinnen und Nutzern bis zu 'gaga'". Die Existenz eines regulären Beschwerdeweges, den jeder einschlagen könne, sei eine wichtige Voraussetzung und eine gute Möglichkeit, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen. "Wenn sich beide Seiten an die Regeln halten müssen, besteht doch eine gewisse Gewähr für Fairneß."

Dazu müssen sich allerdings alle Beteiligten Gedanken über ein sinnvolles Verfahren machen. Denn auch bei den Heimen, die bei der Befragung für sich in Anspruch nahmen, Kritikmöglichkeiten institutionalisiert zu haben, sind diese in der Regel auf Heimleitung und Personal oder den Heimbeirat beschränkt, also auf die gewählte oder von der Behörde eingesetzte Interessenvertretung der BewohnerInnen. Wie gering allerdings der Einfluß des letzteren real ist, zeigen die Kontrollantworten auf die Frage nach dem Entscheidungsträger bei Verpflegung, Arbeitszeiten oder etwa, was die Überschaubarkeit von Rechnungen angeht: Der Beirat taucht hier nicht auf, obwohl seine Aufgabe laut Heimgesetz ist, "in Angelegenheiten des Heimbetriebes wie Unterbringung, Aufenthaltsbedingungen, Heimordnung, Verpflegung und Freizeitgestaltung" mitzuwirken und zu gestalten.

Schriftlich bearbeitet wird Kritik von BewohnerInnen nur in jedem fünften Alten- und Pflegeheim. Jedes zweite führt nicht einmal eine grobe Statistik. Eine zusätzliche neutrale behördliche Beschwerdeinstanz - wie etwa in England schon länger üblich - lehnten zwei von drei Befragten aus der Leitungsebene vehement als "Horrorvorstellung", "ganz gefährliche Versachlichung", "Kontrollinstanz" oder Angriff auf die "große Familie" ab. Fast alle meinten, es sei besser, die Probleme intern zu klären. "Meine Tür steht immer offen", erklärte einer.

Anders verhält es sich übrigens mit Kritik von Angehörigen. Diese wird zu rund 70 Prozent in Beschwerdebüchern, Protokollen des Heimbeirats oder der Pflegedokumentation festgehalten. Auch Berthold M. hat das ausprobieren können, als seine Enkelin noch in Bremen wohnte: "Wenn die zur Heimleitung ging, war immer alles ganz schnell in Butter." Dafür habe sie aber auch öfter mal einen Nachmittag ausgeholfen. Nicht nur bei ihrem Großvater, sondern auch bei anderen Bewohnern. Denn obwohl die Zahl der freiwilligen Helfer die der Professionellen bei weitem übersteigt und die im Gesetz verlangte Fachkraftquote von 50 Prozent in kaum einer Einrichtung erreicht wird, spekulieren viele Leiter auf noch mehr Mithilfe von Angehörigen. Eine Idee, die vor allem von Bundesfamilienministerin Claudia Nolte (CDU) gestützt wird. Bauer glaubt allerdings, daß die unterschiedliche Handhabung der Beschwerden sich vor allem gegen die Alten richte: "Die Angehörigen sind nicht so abhängig und können viel schneller Krach schlagen."

"Vorherrschend", heißt es in der Studie, "ist ein expertokratisches Verständnis von Führungsverantwortung". Handbücher, in denen die Qualitätspolitik und -ziele der Heime festgelegt sind, fehlen in jeder zweiten Einrichtung. Nur 40 Prozent kontrollieren das Einhalten von Standards durch Mängellisten, Dienstbesprechungen oder "ständige Dialoge". Die nach dem Pflegeversicherungsgesetz verbindlichen Richtlinien der Bundes-Rahmenvereinbarungen waren zumindest den InterviewpartnerInnen völlig unbekannt.

Vor allem, was die Transparenz innerhalb der Heime angeht, decken sich die Ergebnisse der Bremer Studie mit denen anderer Untersuchungen, die befürchten, die zum Jahreswechsel endlich in Kraft getretene neue Grundlage der Heimplatzfinanzierung werde lediglich für ein großes Chaos sorgen. Die meisten Einrichtungsträger, so die Befürchtung vieler Pflegekassen, würden die Einbußen, die sie mit der Auflösung der bislang wegen einer Übergangsregelung noch möglichen Pauschalen haben werden, auf die Alten umlegen - möglichst so, daß die das nicht merken. Oder sich nicht wehren können. Bislang waren die Kassen oft genug selbst die Dummen: Die Zeit zitiert ein Schreiben der Leitung eines Hamburger Heims, in dem der Satz für einen Schwerpflegebedürftigen nach Einführung des PflegeVG von 4 960 Mark auf 5 774 Mark gestiegen war, ohne daß im einzelnen klar war, warum. Die Pflegekasse übernehme dafür doch, so die Erklärung, "je nach Pflegestufe, 2 000, 2 500 oder 2 800 Mark". Insgesamt zahle der Mann also sogar weniger. Damit ist es jetzt vorbei. Seit dem ersten Januar finanziert die Kasse nur die medizinische Pflege, die sie auch überprüfen kann. Die sogenannten Hotelkosten müssen extra aufgeschlüsselt werden.

Dabei wird es zum Offenbarungseid für Bundesarbeitsminister Norbert Blüm (CDU) kommen: Denn kostendeckend sind die Höchstleistungen oft genug weder im ambulanten noch im stationären Bereich. Auch ohne die rund 3 000 Mark, die die Heime vermutlich für die Unterbringung kassieren werden, müssen Pflegebedürftige hier ganz schnell auf eigene oder familiäre Rücklagen zugreifen oder doch wieder Sozialhilfe beantragen.