Boulevard der Besserverdienenden

Ab durch die Mitte nach Prenzlauer Bronx: Die politische Kunstpraxis der neunziger Jahre kulminiert in den Kunst-Boutiquen rund um die Berliner Auguststraße.

Als sich die beiden deutschen Staaten am 3. Oktober 1990 formell "wiedervereinigten" - als Folge des Zusammenbruchs der Sowjetunion -, erlebte der Kunstmarkt eine schwere Finanzkrise. Bestand da mehr als nur ein psychologischer Zusammenhang? Jean Baudrillard nannte die dem Burnout des Sozialismus vorangegangene Ost-West-Entspannungspolitk einen "perfekten Teufelspakt": "Wir bitten den Osten um das Bild der Freiheit, im Austausch gegen die materiellen Zeichen der Freiheit." In der Kapitalanordnung demokratischer Gesellschaftssysteme sind zwar die Meinungen austauschbar, nicht aber die Märkte. Die Kunst, sofern sie nicht wie bei Jeff Koons oder Haim Steinbach zum scheinkritischen Design heruntergekommen war, reagierte mit Verweigerung, verließ die Institutionen, ging an die Peripherie, auch wenn frustrierte Theoretiker wie Peter Weibel die Kunst zum Gegenstand der Philosophie degradierten und das postmoderne Gespenst vom Ende der Geschichte die Runde machte.

Kultureller Widerstand

Wie aber reagierten die Galerien und Institutionen? Während die großen Galerien mit Scheinverkäufen den Schein wahrten und die Museen mit Neubauten die Freizeit zu kolonisieren versuchten (Hamburger Bahnhof Berlin, Kunsthalle Hamburg, ZKM Karlsruhe), wurde der Kunstbetrieb in einer Fülle von Symposien, Vortragsreihen und Workshops an der Peripherie durchreflektiert. Künstlerkollektive wurden gegründet ("minimal club" in München, "BüroBert" in Düseldorf, "Bismarc Media" in Berlin), interdisziplinäre Produktionsstätten ("Botschaft" in Berlin, "Friesenwall 116" und "Friesenwall 116a" in Köln, "WochenKlausuren" in Österreich) und Fanzines (Artfan in Wien, A.N.Y.P. in München/ Berlin, Dank und Neid in Hamburg). Mit dem Künstlernetzwerk "The Thing" ("offline" seit 1996) war ein eigenes Kommunikationsnetz und mit den Wohlfahrtsausschüssen (image-geschädigt seit der von bohemistischen Poplinken organisierten "Ost-Tour" 1993) ein provisorisches Parlament etabliert. Auf dem parallel zur Kunstmesse "Unfair" durchgeführten Kongreß November 1992 in Ladenlokalen des Kölner Friesenviertels erlebte die Szene ihr Coming out. In semi-institutionellen Einrichtungen wie dem Künstlerhaus Stuttgart oder dem Depot (Wien) wurde der formierte kulturelle Widerstand nicht nur verwaltet, sondern auf seine auch merkantilischen Möglichkeiten hin getestet.

Transatlantisches Mißverständis

Doch im Gegensatz zu US-amerikanischen ACT UP-Aktivitäten, die gesellschaftspolitische Ziele mit einem Minimaleinsatz ästhetischer Mittel vortrugen, überbetonten insbesondere Kunstaktivisten aus Deutschland ihre kunstkritische Haltung und etikettierten sie als "soziale Kunstpraxis" oder "Interventionismus". Womöglich ein transatlantisches Mißverständnis, denn wo in den USA die Infiltration bereits bestehender Vermittlungsmechanismen auf dem Programm stand und nüchtern die Machtfrage gestellt wurde, z.B. bei Judith Barry, spielte man hierzulande mit verdeckten Karten. Der US-amerikanische Kritiker Joshua Decter beschreibt diese in Europa bis heute nicht eingestandene Motorik der Gegenkultur so: "Bedeutete eine solche konzertierte oder kollektive Antwort heterogener kultureller Praktiken nicht bloß die Entstehung einer neuen 'großen' Kultur durch eine effektive Machtverlagerung (oder Machtübernahme) an der Peripherie?" ("Die Verwaltung des kulturellen Widerstands", in: "Im Zentrum der Peripherie", 1995)

Und Julie Ault, Mitglied des seit der Selbstauflösung 1997 schlagartig legendär gewordenen Kunstkollektivs Group Material, gesteht ein: "Jede Person oder jede Gruppe, die eine Struktur schafft und diese als alternativ bezeichnet, marginalisiert sich sofort selbst und steht vor dem Konflikt, sich in Abhängigkeit zu einer zentralen dominanten Institution oder Idee zu definieren und gleichzeitig dagegen zu rebellieren." Diese Selbstkritik schränkt Ault allerdings dort ein, wo es um Selbst-Historisierung geht. Sie plädiert für ein letztes Gruppenprojekt, natürlich ein Buch, denn "das, was in die 'Geschichte' eingeht, reproduziert immer die kulturellen Hierarchien, die in seiner Historisierung am Werk sind" ("Die Zweischneidigkeit der Geschichte", in: springer. Hefte für Gegenwartskunst, Nr. 3/96). Das Motiv der Selbst-Historisierung noch zu Lebzeiten ist ein die Projekt-Kultur der Neunziger verbindendes Paradigma. Ein anderes ist die ermüdende Dauerreflexion der Beziehung zwischen sozio-kultureller Arbeit und Kunstwelt - für die mittlerweile ebenfalls aufgelöste amerikanische Aids-Aktivismusgruppe Gran Fury weniger ein ästhetisches Problem als eine Frage der Effektivität: "Uns war bewußt, wie weit wir benutzt wurden; wir akzeptierten den Deal, solange man auch unsere Bedingungen erfüllte. Man muß der Kunstwelt zugute halten, daß sie einer der weniger Orte außerhalb des Aktivismus war, an dem eine solche Diskussion über Aids erlaubt war." ("miss you, gran fury", in: springer, Nr. 3/96).

Trotz aller Kritik am inflationären Aufkommen gesellschaftspolitischer Themen in Institutionen - Aids, Migration, Gender, Gen- und Biotechnologie - sollte man nicht vergessen, daß der Großteil beispielsweise der ACT-UP-Aktivitäten in den USA von Museen finanziert wurde.

Auslaufmodell "Gegenöffentlichkeit"

Daß zu Beginn der neunziger Jahre gerade die bildende Kunst zum Aktionsfeld wurde, weil die in Angriff genommene Umdefinition ihrer institutionellen Verankerung das Versprechen auf "Gegenöffentlichkeit" gab, überrascht deshalb, da ihr Stützpfeiler die als bürgerlich verschriene Autonomie ist. Auch der "Polit-Künstler" Hans Haacke muß mit ästhetischen Parametern operieren, um das "symbolische Kapital" der Kunst optimal abzuschöpfen. Die interventionistische Kunstpraxis der neunziger Jahre berührt genau dieses Dilemma: Jene Barrieren zwischen Autonomie und Handlung, zwischen Kunst und Leben, die es abzureißen gilt, werden erst einmal aufgebaut, um das eigene Tun als "künstlerisch" zu legitimieren. Daß gerade Kunstinstitutionen die Orte wären, wo sich "Gegenöffentlichkeit" kristallisiert, widerspricht der Option auf Unabhängigkeit und Selbstverwaltung. Der institutionelle Rahmen verleiht dem Projekt stets Ausstellungscharakter und stellt seine Zielsetzungen versöhnlerisch zur Diskussion. Während des Interfiction-2-Treffens im Herbst 1995 in Kassel wurde das Konzept der "Gegenöffentlichkeit" denn auch als Auslaufmodell kritisiert; das von Negt/ Kluge propagierte Modell linker Medienpraxis beziehe sich ausschließlich auf die alten Medien der One-to-Many-Kommunikation, die nicht netzartig, sondern sternartig ausstrahlten.

Galerie als Kunst-Boutique

Die Galerien hatten die Entwicklung an der Basis entweder verschlafen oder lehnten sie als kommerziell nicht verwertbar ab. Zwar stellte der Kölner Galerist Christian Nagel Ende 1994 kurzfristig seinen regelmäßigen Ausstellungsbetrieb ein und eröffnete statt dessen ein Büro, doch er nahm weiterhin an Kunstmessen teil und bot dort überwiegend Malerei an. Der programmatische Druck, der von den neuen re-politisierten Kunst-Initiativen ausging, unterstützte paradoxerweise dasFesthalten am traditionellen Modell der Galerie als Kunst-Boutique. Ausschlaggebend dafür war das ökonomische Versprechen der neuen alten Hauptstadt des alten neuen Deutschlands Berlin.

Über Nacht ließen sich bis dahin führende Kölner Galerien in Berlin-Mitte nieder, dem neuen Kunstzentrum Deutschlands: Bruno Brunnet, Paul Maenz, Ernst Busche, Neuger/Riemschneider, Max Hetzler, Schipper & Krome, Isabella Kacprzak, Rudolf Zwirner. Die Kölner Sammler Erika und Rolf Hoffmann eröffneten in den Sophien-Gips-Höfen ihr Privatmuseum. Vom Haupstadt-Bonus profitieren die ganz Jungen: Klaus Biesenbach (Kunstverein Kunst-Werke) und die zur Anlaufstelle des internationalen Jet Sets avancierten Galeristen Martin Klosterfelde, Tim Neuger und Burkhardt Riemschneider. Mit der 1996 erstmals ausgerichteten Kunstmesse "Art Forum Berlin" installierten die Berliner Galerien einen Markt vor der Haustür. In dessen Schatten gedieh der von Kunstaktivisten organisierte Kongreß "minus 96" zur Innenstadtproblematik ganz prima; das Problem bestand nur darin, daß das Kunst-Publikum sich lieber auf Techno-Partys tummelte und die Kongreß-TeilnehmerInnen zugleich ihr eigenes Publikum waren.

Wenn der Umbau Berlins zur Hauptstadt den Galerien und KünstlerInnen Sorgen bereitet, dann höchstens, wie man Kapital daraus schlagen kann. Von Baggern zerwühlt, versinkt die Metropole in Optimismus. In der Friedrichstraße, am Potsdamer Platz und am Checkpoint Charlie entstehen abrasierte Wolkenkratzer, schöne neue Lego-Welt. Jede Baugrube eine "Love Parade" der Architektur. Großgalerist Hetzler hat die Zeichen der Zeit erkannt, er setzt auf das Kaufwachstum im Architekturbereich. Die von Hetzler ausgestellten Berliner "Künstler-Architekten" Dudler, Kollhoff, Sawade kaufen entweder direkt bei ihm oder sie revanchieren sich mit Ankauftips bei Bauherren.

Seifenoper Berlin-Mitte

Was Fluxus, eine Kunst-Bewegung im Schatten des Wirtschaftswunders, in den sechziger Jahren praktizierte, nämlich Künstlerdasein als Lebensform, begegnet uns in Berlin-Mitte als Seifenoper wieder. Der als Salonkommunist beschimpfte Fluxus-Ideologe George Maciunas entwickelte für SoHo, den damals ruinösen Stadtteil New Yorks, ein Genossenschaftsmodell. KünstlerInnen erwarben Anteile an heruntergekommenen Häusern, renovierten sie und zogen dort ein. Kunst wurde ein Wirtschaftsfaktor, ohne den Anspruch auf Klassenkampf aufzugeben. Die Merkantilisierung eines ganzen Stadtteils freilich überrollte in den nachfolgenden Jahrzehnten den sozial-utopischen Traum von einer besseren und gerechteren Welt. Um die Exklusivität besorgt, flüchten die New Yorker Galerien heute nach Tribeca und Chelsea.

Wie sich die Zeiten geändert haben, zeigt ein Blick auf die Auguststraße in Berlin, dem neuen Boulevard der Besserverdienden. Während die deutsch-deutsche Geschichte mit einer ganzen Reihe von Großausstellungen ("Deutschlandbilder" im Martin-Gropius-Bau, "Ostwind" im Deutschen Historischen Museum, "Exil: Flucht und Immigration" und "Innere Emigration": "Deutsche Kunst 1933-45" in der Neuen Nationalgalerie) re-nationalisiert wird, warten die Galerien mit einem Ergänzungsprogramm zum museal-ministeriellen Masterplan auf. Vom Ernst-Reuter-Platz im Westen bis zum Strausberger Platz im Osten erstreckt sich das Planungskonzept "Planwerk Innenstadt", ein Kaffeefleck auf der politischen Landkarte Neu-Berlins, in der die Galerien ihren Bedeutungsverlust durch Mitmach-Aktionen überspielen.

Diese von Dieter Hoffmann-Axthelm (City Ost) und John Neumayer (City West) im Auftrag von Stadtentwicklungssenator Strieder erdachte Vision ist ein weit ins nächte Jahrtausend reichender stadtplanerischer Bundesgrenzschutz gegen Graffitti-Sprayer, Wagenburgler und PDS-Wähler. Was Mitterrand in Paris gelang - die aus der City entmieteten KP-Anhänger in den Speckgürtel von Le Pen zu treiben - steht jetzt dem Osten bevor: Ab durch die Mitte nach Prenzlauer Bronx! Die West-City für die Besserverdienenden; das Areal Schloß-/ Linden-/Wilhelmstraße für die Regierungsbeamten; und die Ost-City für die Galerien und Boutiquen. CDU-Fraktionschef Landowsky, größter Fan und Lotto-Finanzier des Kunstvereins Kunst-Werke, kehrt mit eisernem Besen aus: "Wo Müll ist, sind Ratten, wo Verwahrlosung herrscht, ist Gesindel."

Wo Kunst ist, sind Galerien, wo Aufbruchsstimmung herrscht, ist Kunstvolk. Die ihr zugedachte Aufgabe, als kultureller Bückenkopf der "Wiedervereinigung" Investoren anzulocken, erfüllt die Auguststraße tadellos. 1992 auferstanden aus den Ruinen der Spandauer Vorstadt (mit der in Privatwohnungen und Ladenlokalen organisierten Ausstellung "37 Räume"), ist die Auguststraße mittlerweile ein sozialpolitisches Faustpfand der Hauptstadtplaner. Auch die Zwangsräumungen der zum Synonym für Arbeitsverweigerung, Drogenumschlagplatz, Kriminalität umgewerteten Wagenburgen - zuletzt jene hinter dem Mauerstreifen der "East Side Gallery" - wurden sozialpolitisch begründet, mit der Folge, daß sich Bürgerinitiativen selbst gegen Ausweichquartiere am Stadtrand formierten.

Die Auguststraße hingegen - auch sie eine Ansammlung von Wagenburgen, die sich als Galerien tarnen - wird nicht nur toleriert, sondern sogar mit Anerkennung überschüttet und mit Lottogeld gedopt (Berlin Biennale 1998). Warum? Weil sie den Trennungsverlauf beider Stadthälften und die soziale Verelendung als Nachhut der "Wiedervereinigung" sichtbar verwischt, Politik in Kultur verwandelt.

Schöner Wohnen

Schöner Wohnen - das ist die Botschaft der Auguststraße. Der dynamische Junggalerist aus Mitte hat eine kleine Erbschaft gemacht, er sucht die Nestwärme einer sozialen Community, will Spaß und Perspektive haben. Cool, geschäftstüchtig, frisch geduscht: der Junggalerist. Zum Rundgang alle sechs Wochen sind die Ladengalerien im Vorderhaus und die Bretterbuden im Hinterhof mit Menschen vollgestopft. Wie bei einem Act der Backstreet Boys. Da spazieren Volker Hassemer, Klaus-Rüdiger Landowsky und Christos Joachimides Hand in Hand, biegen Museumsdirektoren aus Paris und New York um die Ecke. Die Luft ist lau wie Ecstasy. Vor dem "Panasonic" bildet sich eine Menschenschlange. Wer zu spät kommt, den bestraft der DJ. Kleinformatige Portraits, Aquaplaning-Aquarelle, grelle Gouachen, tuntige Tusche und coole Comics dominieren das Angebot. Jetzt rächt sich die verkürzte Deutung der Kunst als Reflex ökonomischer und symbolischer Ströme. Die Masse der zwar "traditionell", aber in den neunziger Jahren im Bewußtsein der Krise produzierenden und also zu Selbstkritik bereiten KünstlerInnen konnte nicht agitiert werden, sie deutete den "Interventionismus" nicht als Operation der sozialen Wirklichkeit, sondern als Stilbegriff. Die junge Künstlergeneration - von dynamischen Jungdealern ermuntert - knüpft nahtlos an die boomenden achtziger Jahre an und artikuliert Anfälle von Optimismus, ganz so, als hätten die neunziger Jahre gar nicht stattgefunden.

Literatur

Acme Journal, Vol I, No. 2 (New York 1993), "Critical Forums: The Organization of Oppositionality"

Paul Andriesse (Hg.): Art Gallery Exhibiting - The gallery is a vehicle for art. Amsterdam 1996

Marius Babias (Hg.): Im Zentrum der Peripherie. Kunstvermittlung und Vermittlungskunst in den 90er Jahren. Dresden/Basel 1995

Rita Baukrowitz, Karin Günther (Hg): Team Compendium: Selfmade Matches. Selbstorganisation im Bereich Kunst. Hamburg 1996

Bismarc Media: Babelsberg. Eine Endlos-Recherche. Hamburg 1991

Botschaft: Dokumente 1990-1993. München 1993

BüroBert (Hg.): CopyShop - Kunstpraxis und politische Öffentlichkeit. Berlin/Amsterdam 1993

Alice Creischer, Dierk Schmidt, Andreas Siekmann (Hg): Messe 2ok. talking the economics. ökonoMiese machen. Köln/Berlin 1996

erste hilfe, Nr. 1 (München, Oktober 1996)

Kritik. Zeitgenössische Kunst in München, Nr. 1/96 und 2/96, Themenhefte "Kunst und das politische Feld"

Meta, Nr. 2 (Stuttgart, Herbst 1992)

neue bildende kunst, Nr. 4/96, Themenheft "Perspektive Berlin"

Stella Rollig (Hg.): 1994 1995 1996. Wien 1996

springer. Hefte für Gegenwartskunst, Bd. III, Heft 3,

Oktober/November 1997, Themenheft "Reserve"

Texte zur Kunst, Nr. 18 (Mai 1995): Themenheft

"Interessen - Gruppen - Zwänge"

Wohlfahrtsausschüsse (Hg.): Etwas Besseres als die Nation. Materialien zur Abwehr des gegenrevolutionären Übels. Berlin/Amsterdam 1994

17¡ Celsius , Nr. 10 (April/Mai/Juni 1995) und Nr. 11

(September/Oktober/November 1995)