Ja, ich will nach Neukölln!

Ein Berliner Bezirk boomt. Nach dem Hype des Wochenmagazins Der Spiegel kann Neukölln dem Ansturm kaum noch standhalten. Jungle World unterstützt die Kampagne und sprach mit Neu-Neuköllnern

"Heute morgen schon in den Spiegel geguckt?" fragt die Bild-Zeitung den Neuköllner Bürgermeister Bodo Manegold (CDU) und der antwortet: "Schlimmer kann der Tag nicht beginnen." Besonders attraktiv sieht der Manegold wirklich nicht aus, und außerdem hat er jeden Grund, sich ausgiebig Sorgen zu machen: Er verwaltet ein Krisengebiet. Schüsse peitschen über Straßen, Luft brennt in den Gängen des Sozialamts, Kinder leiden Hunger, Sozialarbeiter haben Angst, Afrikaner sammeln japanische Elektrogeräte, Haschisch gibt's am Schulkiosk, Araber kaufen arabisch ein, Handschellen klicken.

Die Uhr steht auf fünf vor zwölf am Turm des burgähnlichen Rathauses, einer Festung der Sozialhilfe-Empfänger. Bürgermeister Manegold hat hier sein Büro. Er kann seine Ohren nicht verschließen vor dem immer lauter werdenden Ticken der Zeiger, er steht seinen Mann und sagt es der Bild ins Gesicht: "Wir haben hohe Kriminalität. Einbrüche und Überfälle sind an der Tagesordnung."

Und weil das so ist, steht es auch im Spiegel. "Wer kann, geht in Deckung. Einer bleibt am Boden liegen": "Alltag im Berliner Bezirk Neukölln." Sozialarbeiter schleichen in schußsicheren Westen um die Ecken, bettelnde Kinder schauen dem Besucher hilfesuchend ins Gesicht, die Geschäfte sind mit dicken Gitterstäben gesichert, Verbrecher aus anderen Bezirken der Stadt trauen sich schon lange nicht mehr in diese Gegend, der Wind pfeift eisig durch die verlassenen Häuserschluchten. Die Polizei patroulliert nur noch einmal am Tag in gepanzerten Fahrzeugen durchs Viertel, immer gegen Mittag. Für einen Moment herrscht dann eine gespenstische Ruhe - es gibt eine Art einvernehmliches Stillhalte-Abkommen für diese tägliche Pause. Plötzlich lugt dann die Sonne hinter einer grauen Wolke hervor, Menschen tummeln sich wieder auf den verwahrlosten Straßen und Plätzen.

Bald schon wird der Frieden wieder gestört. Ein Schuß zerreißt die Luft. Diesmal hat es eine alte Frau getroffen, ein dunkelhäutiger Bursche nimmt ihre Handtasche und schlendert gelassen in eine Seitenstraße. Die Bürger verkriechen sich oder versuchen, eine der letzten U-Bahnen zu kriegen, die sie aus der Gefahrenzone bringen kann. Das Gebiet gehört wieder dem unorganisierten Verbrechen.

Auf der Hardthöhe in Bonn plant man bereits den Einsatz von aus Bosnien heimgekehrten Krisenreaktionskräften. "Die müssen in Übung bleiben", war aus Kreisen um Bundesverteidigungsminister Volker Rühe zu hören, und schließlich habe man nach der guten Presse in Sachen Oderhochwasser mit den jüngsten Viedeospielen der Rekruten wieder einige Sympathiepunkte eingebüßt. Dennoch ist der Neukölln-Einsatz in der Regierungskoalition immer noch umstritten. Die Liberalen fordern nach wie vor eine politische Lösung, Rühe will beim Hauptstadtumzug nichts dem Zufall überlassen.

Wie konnte es nur so weit kommen, daß es so weit kommt? Eigentlich sind die Neuköllner friedliche und genügsame Menschen. Olga O'Groschen beschreibt sie in der Studie "Gebrauchsanweisung für Neukölln" (Labyrinth Verlag, Berlin 1988) so: "Einzigartig sind die Neuköllner. Ein unverwüstlicher Menschenschlag. In ihnen fließt das Blut von Tartaren und hartgesottenen Zuchthäuslern, von Hafennutten und arabischen Teppichhändlern, das schwarze Blut von schwermütigen Kartoffelbauern. Starkknochig kommen sie daher, mit grober Körperbehaarung, breitschädelig sitzt auf dem Nacken der Neuköllner Kopf. Eine lederne Haut umspannt ihre Bäuche, während tief in den Därmen der Nahrungsbrei wackelt. Sie fürchten nicht Tod noch Verderben, sondern blicken furchtlos am Donnerstagnachmittag aus ihrer Zweizimmerwohnung im dritten Stock hinab auf die Erde."

Das war allerdings 1988, jenseits der Harzer Straße stand noch schützend die Mauer herum und bewahrte die Neuköllner vor Schlimmerem.

Vor Peter Wensierski zum Beispiel. Dieser erforschte Neukölln für den Spiegel (Nr. 43/1997) und fand Grauenerregendes heraus: Der Bezirk ist am Ende. Von seiner sicheren Wohnung in Hamburg-Eimsbüttel machte er sich auf, den gefährlichen Ort zu erkunden. Am Taxistand am Bahnhof Zoo zischte er dem Chauffeur unerschrocken seinen Zielort ins Ohr: "Hermannplatz. Ich gebe Ihnen auch 50 Mark extra." Am Ort des Schreckens angekommen, findet er "Wohnungen ohne Bad oder WC, teils ohne Heizung mit Außenklo im Treppenhaus", je tiefer man sich seinen Weg ins Krisengebiet bahnt, desto schlimmer wird es: "Das Elend konzentriert sich in der Altstadt Neuköllns", hier tummeln sie sich, die "Wendeverlierer". Der Neuköllner ist heute, acht Jahre nach dem Fall der Mauer, "Zuwendungsempfänger in der dritten Generation". Um an die Staatsknete zu kommen, schreckt er auf dem Sozialamt vor nichts zurück: "Unzufriedene bedrohen das Personal, zerkleinern schon mal die Büromöbel. Kürzlich zündete einer Dynamitstangen an und verließ das Zimmer. Gott sei Dank waren es nur Attrappen." Da haben wir ja noch mal Glück gehabt.

In der "Hauptstadt der Sozialhilfe-Empfänger" ist man sich seines Lebens nicht mehr sicher, es regiert das Verbrechen. Und keiner tut etwas dagegen: "Der Staat hat sich hier und anderswo zurückgezogen. Besonders abends." Abends wird es dunkel, "junge Brandstifter sind unterwegs" und sorgen für Beleuchtung. Was sollen sie auch sonst tun, hier in "Neukölln ist Endstation", nichts los außer den ewigen Schießereien. Es sind "Kinder, die hungernd durch die Straßen laufen", sie "lungern von morgens bis spät nachts herum, das Schnappmesser immer griffbereit". Geschlafen wird nicht, denn bei all der Langeweile gibt es doch eine Menge zu tun. Morgens gehen die Kinder "arabisch einkaufen", wobei sie sich auch nicht von gutmeinenden Ermahnungen beeindrucken lassen, "ein Filialleiter wurde niedergestochen, weil er altmodisch darauf bestand, daß die Ware ordnungsgemäß bezahlt wird".

Nach der Schule noch schnell in den Park, "um Haschisch und Speed für den Nachmittag zu kaufen", dann, "am Nachmittag sammeln sich die zehn- bis 25jährigen zum täglichen Rumgammeln, stets auf der Suche nach Opfern". So geht das hier dann den ganzen Tag: "Erst lag ein Drogentoter im Fahrstuhl, neulich wurde in der Nachbarwohnung jemand erstochen." Die "Angst grassiert", "auch unter den Sozialarbeitern".

Ein Fall für Hans Koschnick, denn in Neukölln herrscht Krieg zwischen den Völkern, ein "multikultureller Krieg". "In den Klassen hagelt es Abmeldungen, sobald die Mehrheit der Schüler Moslems sind." Dies ist jedoch nicht die einzige Demarkationslinie im märkischen Mostar, auch "die türkischen Facharbeiter und Geschäftsleute (...) werden verdrängt von Bosniern, Arabern, Afrikanern". Wer blickt da noch richtig durch, bei so einem Durcheinander? Die Bürgerkriegsparteien sind kaum noch zu unterscheiden, dennoch konnte Wensierski sie präzise kartographieren: "In der Altstadt gibt es Straßenzüge, in denen leben ausschließlich Arbeitslose und Sozialhilfe-Empfänger, dazu noch ein paar Illegale aus Schwarzafrika, die von keiner Statistik erfaßt werden." Und die kontrollieren sogar die wenigen Grünflächen im Bezirk: "Die Hasenheide, ein vermüllter Park, ist fest in schwarzafrikanischer Hand."

Trotz dieser Mischung mag man hier keine Fremden, und "der Ton im Rollbergviertel (Ö) ist recht heftig": "Die Standardbegrüßung für vorbeikommende Fremde lautet: 'Was guckst du? Willste auf Schnauze?'" Ein Bezirk also, den man lieber nicht so ohne weiteres betritt. Zwar ist Neukölln in den letzten Jahren zum "'Untertauchgebiet' für Schwarzarbeiter, abgelehnte Asylanten, Prostituierte ohne Aufenthaltserlaubnis" geworden, dennoch gilt es nicht als sicheres Drittland: "Wer noch irgend kann, flieht aus der Altstadt." Das betrifft vor allem den intellektuellen Mittelstand, sofern er im "Soziotop" überhaupt vorhanden ist. "Die wenigen Studenten, die hier leben, verschweigen unter ihresgleichen so lange es geht, daß sie in diesem Stadtbezirk wohnen, und wenn sie es zugeben müssen, fügen sie rasch hinzu: 'Aber ich zieh' da bald weg!'" Ein regelrechter Brain-drain, der sich in einem erschreckenden Ausmaß auf die Ausdrucksweise der Einwohner auswirkt: "Neukölln is' nur noch een Staubsaujer für Asoziale aus der janzen Stadt."

Wensierskis Schritte werden schneller, kein Platz, an dem man noch sicher ist. Nicht im Park, nicht auf der Straße. Dort bietet sich immer nur dasselbe Bild, "blaugeschlagene Frauen begleiten ihre bereits am Vormittag alkoholisierten Männer". Er hat es sogar in einer der lauschigen Neuköllner Eckkneipen versucht, aber auch dort findet er keine Ruhe. "Am Tresen trifft man Frauen wie Marita, deren Mann soeben einen Rettungswageneinsatz provoziert hat."

Wensierski hat gründlich recherchiert, um die Wahrheit über Neukölln an den Tag zu bringen. Das sagt er zumindest dem Berlin-Brandeburger "Radio Eins". Auch wenn das Neuköllner Volksblatt ihm kleinlich nörgelnd ein paar Fehlerchen nachweist. Diese Geschichten, so Wensierski, sind nicht für jeden Bürger beim Sonntagsspaziergang sichtbar, sie verbergen sich hinter der Fassade. Folgerichtig warnt "Radio Eins" im anschließenden Wetterbericht auch vor dem "Bleihagel in Neukölln".

Bürgermeister Manegold hält verzweifelt dagegen. "Hier in Neukölln ist es spannend. Fast jeden Tag passiert was Neues." Nichts anderes hat auch Peter Wensierski behauptet.