Gesundheitsreform in der Sackgasse

Die ostdeutschen Krankenkassen haben die Schwindsucht und sollen vom Westen unterstützt werden. Strukturprobleme werden dadurch nicht gelöst

"Ja, ja, ja." Spätestens seit einem Monat nickt auch Werner K. fleißig, wenn er hört, daß irgend jemand wieder einmal die Lohnnebenkosten senken will. Noch Ende August hatte sich der bei der Laubag beschäftigte Bergmann weder für das ganze Hickhack interessiert, das Politiker und Sozialverbände regelmäßig um die Krankenkassenbeiträge veranstalten, noch um "diese ganzen Reformen". Vor ein paar Wochen aber hat ihm seine Knappschaftliche Krankenversicherung einen Bescheid geschickt, daß sie "leider gezwungen" sei, die Kassenbeiträge zu erhöhen - um satte 2,4 Prozentpunkte von 11,8 auf 14,2 Prozent. Begründung: ein rapide wachsendes Defizit, das durch die Entlassungen im Bergbau bedingt und auch durch die Bundeszuschüsse für ihre traditionell protegierte Versicherung nicht mehr aufzufangen sei. "Natürlich könnte ich jetzt die Kasse wechseln", wiederholt K. das Argument, mit dem Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) vor Jahresfrist erklärt hatte, daß sich die Kassenbeiträge schon stabilisieren würden, wenn das Gesundheitswesen erst einmal dem Wettbewerb geöffnet sei.

Pech nur für K., daß die anderen Kassen im Osten schon vor der Knappschaftlichen in Bedrängnis geraten sind und der Beitragsdurchschnitt längst bei rund 14 Prozent liegt - mit einem Spitzenwert von 14,9 Prozent bei der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) in Schwerin. Und daran, daß Seehofer möglicherweise die im Gesetz zur Neuregelung der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) vorgesehene, aber bislang ausgesetzte Regelung, Versicherten für jede Zehntelprozent-Erhöhung der Versicherungsbeiträge eine Mark mehr Zuzahlung bei den Medikamenten aufzubrummen, doch noch für gültig erklären könnte, wagt er gar nicht zu denken: Bei mindestens 28 Mark reiner Rezeptgebühr könne er seine Tropfen oder Pillen dann gleich selber kaufen. Dabei liegt der Beitragssteigerung bei der Knappschaftlichen Krankenversicherung wohl kaum eine böse Schröpfungsabsicht zugrunde, auch wenn sie im Vergleich zu anderen Kassen sehr deutlich ausfällt - die Beiträge haben sich lange konstant bei unterdurchschnittlichen 11,8 Prozent gehalten und jetzt nur dem allgemeinen Niveau angepaßt. Und daß sich das in Ostdeutschland sehr viel schneller erhöht als im Westen, wo die Versicherten noch mit durchschnittlich 13,5 Prozent wegkommen, begründen die Ost- Kassen unisono mit riesigen Defiziten.

Allein im ersten Halbjahr 1997 verzeichneten sie zusammen ein Minus von 1,1 Milliarden Mark, das durch keine Rücklagen aufzufangen ist. Im Gegenteil: Schon in den vergangenen Jahren mußten Fehlbeträge in Milliardenhöhe kurzfristig durch Bankkredite finanziert werden - was Sozialversicherungsträgern eigentlich verboten ist.

Bedingt ist die Differenz durch das Auseinanderdriften von sinkenden Einnahmen und wachsenden Kosten. 1996 mußten die Ost- Kassen bereits 87 Prozent der vergleichbaren Beträge im Westen ausgeben, weil zu den längst einheitlichen Arzneimittelpreisen auch immer angeglichenere Arzt- und Krankenhauskosten hinzukommen.

Herein kamen aber wegen der immer noch geringeren Löhne und Gehälter sowie permanent hoher Arbeitslosigkeit lediglich 77, bei den AOK sogar nur 67 Prozent der Einnahmen in Westdeutschland. Für das laufende Jahr rechnen die Kassen mit weiteren 0,8 Prozentweniger. Das Problem stößt inzwischen auch BundesgesundheitsministerSeehofer auf, der nicht nur von Kassen und Versicherten, sondern auch von der Wirtschaft bedrängt wird, etwas zu unternehmen, damit die Beiträge und damit die Lohnnebenkosten nicht noch weiter steigen.

In der vergangenen Woche versammelte er Kassenvertreter aus Ost und West sowie die ostdeutschen Gesundheitsminister, um ein Krisenpaket zur raschen Rettung zu schnüren, das ganz nebenbei zwei Grundprinzipien seiner Gesundheitsreform erst einmal außer Kraft setzen würde. Statt Selbsthilfe und Eigenverantwortung beschwor Seeehofer das Solidarprinzip und ging damit auf Forderungen der Krankenkassen im Osten ein. Die West-Krankenkassen sollen den schwindsüchtigen Ost-Ablegern unter die Arme greifen und ihren Risikostrukturausgleich, mit dem sie Wettbewerbsnachteile wie hoher Altersdurchschnitt, mehr Männer oder viele arbeitslose Mitglieder untereinander nivellieren, schon 1999 auf die Ost-Kassen ausweiten - ein Jahr früher als geplant, aber schon nach den Bundestagswahlen. Bis dahin könnten auch die Bankkredite durch Darlehen der Kassen im Westen abgelöst werden. Allerdings bedürfen beide Maßnahmen noch der Zustimmung sowohl der Koalition als auch des Bundesrats. Und hier haben die Ministerpräsidenten aus Bayern und Baden-Württemberg bereits ihren Widerstand angemeldet, im Osten weitere Aufbauhilfe zu leisten. Immerhin müßten die Beiträge für westdeutsche Versicherte um etwa einen Zehntelprozentpunkt angehoben werden - dafür könnten die ostdeutschen mit einer Entlastung von bis zu 0,4 Prozent rechnen. Weniger Widerspruch dürfte Seehofer mit Teil drei seines Pakets herausfordern: Kurzfristig, so der Minister, müßten die Ost-Kassen erst noch einmal sparen.

Potential sehe er bei Krankenfahrten und vor allem der Arzneimittelverordnung. Unterstützung erhielt er durch eine Untersuchung des Krankenmedizinischen Dienstes der AOK, der bei der Auswertung von einer Million Rezepten zu dem Ergebnis kam, daß vorwiegend Medikamente aus dem oberen Preisdrittel und verschwindend wenig Generika, also No-name-Medikamente mit gleicher Zusammensetzung, verschrieben worden seien.

Experten finden es jedoch fraglich, ob sich hier eine andere Praxis durchsetzen läßt - oder ob die Anordnung nur für mehr Unsicherheit bei Ärzten und Patienten und womöglich zu einer größeren Verlagerung in den rezeptfreien Bereich führt. Immerhin war erst im September der Arzneiverordnungsreport 1997, der neben Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen auf dem Arzneimittelmarkt auch Hinweise für eine "rationale Arzneimitteltherapie", mit der rund 4,2 Milliarden Mark eingespart werden könnten, von einzelnen Arzneimittelherstellern gerichtlich gestoppt worden.

Bereits in den vergangenen Jahren waren Positivlisten des Deutschen Ärztebundes und anderer Verbände regelmäßig am Einspruch der Pharmaindustrie gescheitert. "Reiner Aktionismus", lautet deswegen die einheitliche Beurteilung der Seehofer-Pläne bei SPD, Bündnisgrünen, PDS und dem Deutschen Gewerkschaftsbund, die schon bei der Diskussion um die dritte Stufe der Gesundheitsreform ganz andere Einsparpotentiale aufgezeigt hatten: Neben den kurzfristigen Instrumenten Positivliste und Budgetierung bestimmter Ausgaben müsse vor allem die gesundheitspolitische Zielsetzung neu überdacht werden, hieß es. Es könne nicht sein, daß man sich auf übertriebene und überteuerte Apparatemedizin und intensiven Medikamenteneinsatz konzentriere, wenn die häufigsten Krankheits- und Sterbeursachen durch Prävention und kombinierte Heilmethoden nicht nur kostengünstiger, sondern auch effektiver bekämpft werden könnten.

Im Übrigen sei die Sparerei müßig, wenn nicht gleichzeitig die Einnahmenseite verbessert werde. Und dafür bedürfe es einer angemessenen Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik. Selbst wenn sich mit dem vorgezogenen Risikostrukturausgleich "ein Stück Gerechtigkeit" herstellen ließe, so SPD-Sozialexperte Rudolf Dreßler, zeige die gegenwärtige Situation bei den Kassen doch vor allem eins: daß Wettbewerb und gleiche Gesundheitsversorgung für alle nicht zusammen gehen.