Der kleine Moment

Wo Vater Nietzsche die Tür eintrat und man eine Leninsche Köchin trifft. Gabriele Goettles Reportagen aus Ost & West.

Nie war soviel Deutschland wie heute. Das Projekt "Einheit" währt sieben Jahre, und Besserung ist nicht in Sicht. Folglich gelangt auch die Konjunktur der nationalen Erweckungsliteratur an kein Ende. Je widerwärtiger der Mob zur Tat schreitet, desto lauter krähen und orgeln die Eliten. Noch jeder, der weder jemals einen Gedanken gefaßt noch verstanden hat, diesen, den nicht gefaßten Gedanken, so zu Papier zu bringen, daß der Sprache kein Tort geschehe, möhrt vor sich hin, als ob es geheimer Rezepte bedürfte, um die Tinte mal bei sich zu behalten.

Das Schlüsselwort der anhaltenden Publizistik-Pest ist: Deutschland. Denn Deutschland ist - und ist auch wieder nicht. Die Schmöcke registrieren Verwerfungen diesseits und jenseits des virtuellen Stacheldrahtes, beklagen fehlende Gemeinsamkeiten und können vor lauter deutsch-deutscher Zwietracht oft nicht mehr anders, als ins Schnupftuch zu greinen. Jammer, Tristesse, Malaise: Die Deutschen, sie sind sich so gram, sie sind so verschieden, sie kamen bislang und kommen wohl nimmer zusammen. Tragisch. Schwerst tragisch.

Es gibt eine Ausnahme, Gabriele Goettle. Ihre Reportagen, zumeist erstgedruckt in der taz, ragen einsam über dem üblichen Krone-Schmalzschen Schmalz und den unsäglichen Wickertschen Sittlichkeitsverdikten. Mehr noch, Goettle Iehrt, was Schreiben heißt, das mit der Abbildung von Alltag befaßt ist: beobachten, zuhören, behutsam in Form bringen. Und läßt damit den deutschnationalen Dreck, den allgegenwärtigen Gesinnungsbrei und die wanzige Stapelware schon wieder vergessen.

1991 erschien Goettles erster Reportagen-Band, "Deutsche Sitten", gefolgt 1994 von "Deutsche Bräuche" und nun den "Deutschen Spuren". Der akkurat gearbeitete Text hält, was im Untertitel anklingt: Er vermittelt "Erkenntnisse aus Ost & West". Das Einnehmende daran: Goettle mag wohl, wie der Verlag enthüllt, die Ex-DDR "in ihrem VW-Bus" durchkreuzt haben, hütet sich aber vor Urteilen und Sätzen, wonach, so die Pressestelle, "dort im längst noch nicht abgeschlossenen Umbruch, (...) die Vereinigung die besten Geschichten" schreibe. "Dort liegen die vom alten Systen verursachten Narben noch ganz dicht unter der Oberfläche, dort blühen die Ausbrüche der Bonner Demokratie am buntesten, dort eruptiert offensichtlicher als im Westen noch Unverdautes aus der Hitler-Diktatur nach oben." Und wenn Eichborn noch so marktschreierisch und -gängig totalitarismustheoretischen Kitsch anzupreisen gedenkt, Goettle löst derart brummende Erwartungen nicht ein.

Sie kann es nämlich um Äonen besser.

Weder die Vereinigung noch die dt. Einheit, noch sonst eine sieche Mystifikation schreibt Geschichten, in denen unverdaute Hitler-Diktaturen offensichtlicher als offensichtlich nach oben eruptieren. (Vielleicht umgekehrt?) Goettle schreibt Geschichten, sie adelt und veredelt die ehrwürdige, fast vergessene oder wenigstens weitenteils verschluderte Form der literarischen Reportage; und aus jener "erwächst", da liegt Eichborn wieder besser, in der Tat "große Literatur".

Goettle versteht es aufs beste, die Momentaufnahme, die exakte Wahrnehmung und das Interview zu verknüpfen. Aus vielzähligen Nuancen gearbeitete Kompositionen erweitern individuelle Weltansichten zum symptomalen Ausdruck gesellschaftlicher, lebensgeschichtlicher und historischer Begebenheiten. Dabei gilt Zurückhaltung als höchster Maßstab. Bringt sich Goettle - selten genug - selbst offen ins Spiel, entstehen aus wie beiläufig begonnenen Gesprächen komische Versuchsanordnungen, Erprobungen auf kleinstem Raum: Wie soll man sich in dieser (neuartigen) Welt zurechtfinden? Welche Schwierigkeiten bereitet dem gefeuerten Akademiker die Formulierung einer Heiratsannonce?

"Gerd: (...) Ich hab' da unlängst die Grundrisse vom alten Marx mir noch mal vorgenommen, und das war eine Erleuchtung, ehrlich gesagt, das liest sich mit dem Wissen, das ich heute habe, ganz anders als zu unseren Zeiten ...

Elisabeth: Mhm ...

Gabriele: Und darüber werdet ihr dann am Kamin, bei Kerzenschimmer und einem Gläschen Rotkäppchen ...

Gerd: Muß ja nicht sein, war ja nur ein Beispiel."

Nur ein Beispiel für die Misere hierzulande ist vieles. Oft müssen Situationen, in denen Demütigungen und die blanke Ideologie, Frustrationen und der reine deutsche Irrsinn hervortreten, gar nicht erst konstruiert werden. Die bloße Teilnahme scheint zu genügen; die Teilnahme an einer Trauerfeier für Heiner Müller etwa, um Alexander Kluge als jenen närrischen Pfau vorzuführen, der er immer war, und die Kulturbetriebsbagage als jene Bande zu charakterisieren, die sie immer sein wird. Goettle gelingt hier wie da eine physiognomische Studie der Gesellschaft, deren Genauigkeit aus dem emphatischen Interesse an Wirklichkeit resultiert. So wohnt sie dem Abschiedsfest der Roten Armee (der Westgruppe der russischen Truppen) in Wünsdorf bei, schildert nichts anderes denn human zu nennende Gastfreundlichkeiten, beschreibt Speisen, Getränke, Gesang, flicht Erinnerungen einer "leninsche(n) Köchin" dazwischen und kontrastiert ihre dichten Beschreibungen mit großer Geschichte, wie sie "der kleine Moment" evoziert: "Im Rahmen der Gestaltung eines 'Abschieds mit Würde' machte Bonn auch durch diese Rechnung einen dicken Strich. Die offizielle Verabschiedung wurde - obgleich die russische Seite ursprünglich einen Termin im Juni gewünscht hatte - auf den 31. August festgelegt. Abgelehnt wurde auch der Wunsch nach einer gemeinsamen Verabschiedung zusammen mit den Westalliierten, abgelehnt auch der Wunsch nach einer feierlichen Verabschiedungszeremonie im Reichstag. Der Platz Rußlands ist am Katzentisch reserviert. (...) Daß es sich hier (beim russischen Ehrenmal in Treptow, J.R.) um das zentrale Denkmal für die 20 000 bei der Schlacht um Berlin gefallenen russischen Soldaten handelt und beim 8. Mai um den 49. Jahrestag der 'bedingungslosen Kapitulation des faschistischen Deutschland', ist zwar für jeden Russen ausgesprochen wichtig, hat aber keine Auswirkung gehabt auf die Gestaltung des deutschen Abschiedsprotokolls. (...) Vergessen der Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion durch die Deutschen, vergessen auch der Tod von 20 Millionen Sowjetbürgern in diesem Krieg, die Verwüstung ganzer Landstriche, das Malträtieren und Verschleppen von Abertausenden in Gefangenschaft und Zwangsarbeit. Nun, wo die letzte Gelegenheit gekommen ist, ein irgendwie sichtbares Bedauern an den Tag zu legen, ließ man sie ungenutzt verstreichen, ja man läßt sogar durchblicken, daß der Abzug aus Deutschland lediglich die logische Konsequenz aus der bedingungslosen Kapitulation des Kommunismus vor dem überlegenen kapitalistischen Weltsystem sei. Insofern erwartet man von ihnen nur eins: besenreine Übergabe der besetzten Gebiete." Die Spuren der Deutschen sind überdeutlich; vor allem, wenn sie auf "angestammten" Territorien frisch hinterlassen werden.

Goettles Reportagen halten Geschehnisse fest, an die mancher schon morgen nicht mehr erinnert sein will. Sie besucht Altersheime und stillgelegte Fabriken, Motorradfahrertreffen, Porno-Messen und das hochsozialistische Turnvater-Jahn-Museum, sammelt Vorurteile, Erfahrungsberichte, Stereotypen, Schnell- und gewachsene Urteile, arrangiert dramenähnliche Reden und ausgreifende Schilderungen. "Wir haben andere Sorgen hier", ist ostwärts oft zu hören, und daneben stellt Goettle Sätze von schlichter Klarheit, in denen die Aufgeblasenheit der Herrschaft und das Elend derjenigen, die nur noch mit der Mühsal des Alltags geschlagen sind, aufeinanderprallen.

Bisweilen sind's Kuriositäten, Schrullen der Geistesgeschichte, so, wenn Goettle ihre Erkundungen der Orte Röcken und Schulpforte um die Anekdote ergänzt: "Seit 1991 stehen wir unter Denkmalschutz, mitsamt der Haustür, die hat der Vater Nietzsche 1843 kaputtgemacht, das ist bis heute nicht richtig repariert"; meist aber ist es Geschichte, Geschichte, die von jenen, die ständig das Maul mit ihr vollnehmen, nicht für voll genommen und als erledigt betrachtet wird. Ein Blick nach Pirna zum Schloß Sonnenstein genügt, dorthin, wo zwischen Juni 1940 und Herbst 1941 "etwa 15 000 Kranke aus verschiedenen Anstalten und Häftlinge aus verschiedenen Konzentrationslagern systematisch ermordet" wurden. Dort tagt heute ein "Workshop Solarenergie", und es sprich Saarlands SPD-Umweltminister Jo Leinen: "Der Großraum Dresden könnte die Brücke zwischen Ost- und Westeuropa für eine moderne Energieversorgung werden, der Sonnenstein in Pirna mit seiner großen Tradition ist eine geeignete Plattform für ein Zentrum erneuerbarer Energie."

Gabriele Goettle: Deutsche Spuren - Erkenntnisse aus Ost und West. Eichborn, Frankfurt/M. 1997, 362 S., DM 49,50