Arbeitslos im Arbeitskreis

Gewerkschaften stehen auf Tradition: Obwohl in Berlin jeder fünfte IG-Metaller arbeitslos ist, bleiben Betriebe Mittelpunkt der Arbeit

Lohnverzicht und jetzt auch noch Kombi-Lohn als "beschäftigungssichernde Tarifpolitik" - darüber kann sich Burkhardt Bundt aus der Geschäftsführung der Berliner IG Metall aufregen. Arbeitszeitverkürzung sei das Gebot der Stunde, Abbau von Überstunden. Aber das dürfe doch nicht mit Maßnahmen zusammengeworfen werden, die ausnahmslos den Unternehmern dienten. "Damit werden doch keine neuen Arbeitsplätze geschaffen."

Das Engagement Bundts kommt nicht von ungefähr. Jedes fünfte der 62 000 IG-Metall-Mitglieder in Berlin ist arbeitslos, und daß sie überhaupt noch in der Gewerkschaft organisiert sind, hängt vor allem damit zusammen, daß die IG Metall seit 1994 einen Arbeitskreis Arbeitslosigkeit unterhält. Knapp 50 Frauen und Männer sind hier aktiv, wollen Präsenz zeigen in der Öffentlichkeit und in der Gewerkschaft, anderen Arbeitslosen helfen, das Gefühl der Hilflosigkeit zu überwinden, aus der sozialen Isolation herauszufinden und mit der prekären finanziellen Situation klarzu- kommen. "Nicht zu vergessen", so Joachim Diercksen, "die Sozialpolitik der Bundesregierung zu entlarven". Der 50jährige Arbeitslose stammt aus der Ingenieurschmiede des Traditionsunternehmens Bosse, das nach dem Anschluß der DDR Konkurs anmeldete. Damals bekam er mit, wie unterschiedlich die Bedrohung auf die einzelnen Beschäftigten wirkte: "Manche, vor allem auch Nichtdeutsche, die ihre Familien als Rückhalt hatten, nahmen die Abfindung und waren weg." Aber "durchhängen lassen", das sei nicht gegangen, auch wenn der Betriebsrat zunächst mit der Aufgabe überfordert schien. Anders hätte man den Sozialplan jedoch nicht durchsetzen können.

Und genau deshalb findet Diercksen es heute wichtig, daß die Beratungsstelle für Berufliche Fort- und Weiterbildung (bfw), die den Arbeitskreis unterstützt und von der Berliner Senatsverwaltung für Arbeit und Frauen mit 800 000 Mark im Jahr gefördert wird, schon im Vorfeld von geplanten Schließungen oder Personalabbau einspringt. Die Beraterinnen arbeiten eng mit den Stadtteilsekretären der IG Metall zusammen und halten sich über kritische Betriebe auf dem laufenden. "Dann müssen wir oftmals nicht nur die Beschäftigten informieren und den Betriebsrat stützen", sagt Annette Engelfried. Manchmal verlange die Situation auch nach einer Unternehmensberatung, weil das Management in kleinen und mittleren Betrieben sich im Förderinstrumentarium nicht auskenne.

Aber auch für Annette Engelfried und ihre Kollegin Ursula Macke ist es im letzten Jahr schwieriger geworden. Die Folgen der Arbeitsförderreform und der Änderungen bei der Sozialhilfe werden spürbar: Erhält der Gekündigte eine Abfindung, gilt der Gekündigte als mitverantwortlich dafür, daß er den Arbeitsplatz verloren hat, die Summe wird zur Hälfte auf das Arbeitslosengeld angerechnet. Umschulungen und Fortbildungskurse wurden radikal reduziert, Kurzarbeit ist nur noch in Ausnahmefällen möglich. Diercksen ist ein Opfer der untertariflichen Löhne im Osten geworden. Als er nach einer ersten Phase der Arbeitslosigkeit "irgendwo in den neuen Bundesländern" anheuerte, war er auch diesen Job bald wieder los - und das neu berechnete Arbeitslosengeld lag erheblich niedriger als das von Ex-Kollegen, die durchgängig arbeitslos gewesen waren.

Bundt sieht sich und seinen Landesverband als Vorreiter. Obwohl sich in der ÖTV schon Ende der siebziger Jahre eine Fachkommission "Zeitverträge und Arbeitslosigkeit" zusammengefunden hatte, dauerte es bis Mitte der Achtziger, bis die ersten gewerkschaftlichen Arbeitslosengruppen offiziell anerkannt wurden und eine Koordinierungsstelle in Bielefeld eröffneten. Inzwischen gibt es zwar allein in der ÖTV ein gutes Dutzend, und auch die IG Metall sowie die kleineren Gewerkschaften HBV, GEW und IG Medien ziehen nach, allerdings sind die geschaffenen Möglichkeiten unbefriedigen: "Wir haben große Schwierigkeiten, in den Gremien nicht nur gehört, sondern anschließend auch unterstützt zu werden", erklärt Diercksen. Gewerkschaftliche Politik werde immer noch auf betrieblicher Ebene, in den Betriebsgruppen gemacht. "Und da sind wir einfach nicht mehr drin." Das Problem wiegt umso schwerer, weil für die Arbeitslosen auch der direkte Kontakt wichtig ist. "Die müssen sehen, daß wir ganz normale Gewerkschafter sind, die die gleichen Interessen haben." Der schwerfällige Apparat verhindere aber strukturelle Veränderungen. "Wir stecken im Dilemma", meint auch Bundt. "Wir wollen weiterhin eine Kampforganisation der Beschäftigten sein, Tarifpolitik machen." Und die gesellschaftlich anerkannte Position halten, sich nicht zu weit in marginalisierte Bereiche begeben.

Arbeitslosengeld oder -hilfe werden aber nicht zwischen den Tarifpartnern, sondern im Parlament ausgehandelt. Also müßten sich die Gewerkschaften stärker in die Politik einmischen, wenn sie nicht wollen, daß das Heer der Arbeitslosen von Bundesregierung und Industrie gezwungen wird, Arbeit zu beinahe jedem Preis anzubieten - und somit zur Etablierung eines Niedriglohnsektors mißbraucht zu werden, der auch die Bedingungen für bis dato noch gesichert Beschäftigte untergräbt.

Damit aber haben nicht nur die konservativen Gewerkschaften IG Bau und die neue IG BCE Probleme. Als Anfang Juni für einen Marsch zum Amsterdamer Gipfel aufgerufen wurde, zu dem neben Gewerkschaften auch Arbeitslosen- und Sozialhilfeinitiativen sowie sozialistische Gruppen aufriefen, verweigerten die Hauptvorstände die Unterstützung. Die IG Metall-Führung streute sogar das Gerücht, der Marsch werde von Rechtsradikalen vorbereitet.

"Vor Ort sah das ganz anders aus", so Bundt, dessen Landesverband nicht nur aufgerufen, sondern sich auch beteiligt hatte - mehr als "fünf, sechs Leute" habe man allerdings nicht auf die Beine gebracht. Den Arbeitslosen sei es nicht besser ergangen. Stellen sie sich so eine gemeinsame Politik vor? "Nicht nur", so Diercksen. Der Arbeitskreis fordere weniger Überstunden und "Arbeitszeitverkürzung mit differenziertem Lohnausgleich". Und das hört sich nicht nur nach Burkhardt Bundt, sondern auch nach Klaus Zwickel.