In eins nun die Hände

III. »Wir können uns nur selbst helfen«

Das Ergebnis von fünf Gruppendiskussionen zeigt, daß das Vertrauen in die Gewerkschaften gesunken ist

In der Vorstandsverwaltung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) in Düsseldorf muß im Frühjahr dieses Jahres etwas schiefgelaufen sein. Heißt es doch im Impressum des DGB-Aktionsprogramms "Für Arbeit und soziale Gerechtigkeit": beschlossen am 5. März 1997 vom Bundesausschuß. Nun kursiert in Gewerkschaftskreisen ein Papier der Gesellschaft für Politik- und Sozialforschung mbH München (polis), das den Titel trägt: "Arbeit und soziale Gerechtigkeit - Der Standort Deutschland, der Sozialstaat und die Gewerkschaften."

Auf gut 60 DIN-A-4-Seiten sind hier die Ergebnisse von fünf Gruppendiskussionen festgehalten, deren Methode durchaus geeignet scheint, die "Stimmung im Land" einzufangen. Im Vorwort des Berichtes heißt es, der DGB-Bundesvorstand habe polis im März 1997 mit der Durchführung der Diskussionen beauftragt, um zu klären, welche Zielsetzungen und Programme, Planungen und Vorhaben des DGB Chancen haben, mit Verständnis in einer breiten Öffentlichkeit aufgenommen zu werden. Geklärt werden sollte auch, wo und warum solche Vorhaben mißlingen könnten und die Identifikation mit den Gewerkschaften nicht stattfindet. Die Ergebnisse waren offenbar nicht ganz so, wie sie sich die Strategen erhofft hatten. Vielmehr müssen sie sie so erschreckt haben, daß sie versuchen, das polis-Papier unter Verschluß halten. Jungle World liegt diese Studie dennoch vor.

Die Diskussionen, auf deren Grundlage sie entstanden ist, fanden in Bochum, Dresden, Hamburg, Leipzig und München statt. In Bochum debattierten die Forscher dabei mit neun Facharbeitern im Alter zwischen 36 und 48 Jahren, in Dresden mit neun sogenannten Vereinigungsverlierern - fünf Frauen zwischen 32 und 45 Jahren und vier Männern zwischen 32 und 50 Jahren - und in Hamburg mit neun Frauen zwischen Anfang 30 und Ende 40 aus Dienstleistungsberufen. Leipzig hatte neun sogenannte Vereinigungsgewinner - Männer zwischen 29 und 38 Jahren - aufzubieten, und in München diskutierten zehn Angestellte - fünf Frauen zwischen 30 und 39 Jahren und fünf Männer zwischen 33 und 38 Jahren - aus den Zukunftsberufen. Ein repräsentativer Bevölkerungsquerschnitt also. Das Verhältnis von gewerkschaftlich Organisierten und Nichtorganisierten war in etwa ausgeglichen.

Alle Diskutanten erklärten, daß sich ihrem Empfinden nach in den letzten Jahren nichts zum Besseren geändert habe. Die schlechte wirtschaftliche Lage habe sogar Auswirkungen auf die familiären Beziehungen, selbst unter Arbeitskollegen verschlechtere sich das Verhältnis. Der Satz "jeder ist sich nur noch selbst der Nächste" sei öfters gefallen. Das Klima in der Bundesrepublik sei nicht nur schlecht, sondern "pervers"; man beobachte einen "Werteverfall".

Vor allem im Osten soll "früher alles besser" gewesen sein. In Dresden und Leipzig habe das so geklungen: "Da gab es gemeinsam mit den Führungskadern und den dazu eingeladenen Ehepartnern Betriebsfeste und Betriebsausflüge." Heute sei all das flachgefallen, Führungskräfte separierten sich "vom Kollektiv" und bildeten eine abgehobene "Belle Etage". Um da nicht unter die Räder zu kommen, sei Anpassung angesagt.

Als Indikatoren für die Entwicklung zum Schlechteren nannten die Probanten Allgemeinplätze: die wachsenden Erwerbslosenzahlen - jeder Diskussionsteilnehmer kannte persönlich Arbeitslose -, das fehlende Wirtschaftswachstum, die geringeren Berufschancen für die Kinder und die Tatsache, daß man mit 40 schon zum alten Eisen zähle, obwohl man bis zum 65. Lebensjahr arbeiten müsse. Zudem nehme die Verarmung zu, und die Freundlichkeit unter den Menschen verliere an Wert.

Darüber hinaus ging es aber auch ans Eingemachte: Was erwarten die Menschen von Staat, Unternehmern und Gewerkschaften? Genereller Tenor in den fünf Diskussionsrunden: Der Staat tue zwar viel, aber man habe tiefe Zweifel, ob es auch das richtige sei - und ob er überhaupt in der Lage sei, eine Wende zum Besseren zu bewirken. Vor allem, da die Bundesregierung "sogar ihr Parlament in Berlin mit ausländischen Schwarzarbeitern bauen" läßt. Die Unternehmer dagegen sind nach Überzeugung aller Diskussionsteilnehmer für eine wirtschaftliche Wende zum Besseren unverzichtbar. Doch wird immerhin bezweifelt, daß sich Unternehmer noch dem Gemeinwohl verpflichtet fühlen.

Zur Rolle der Gewerkschaften äußern sich vor allem die Ostdeutschen skeptisch. Über 40 Jahre Erziehung zum Klassenbewußtsein haben offensichtlich wenig bewirkt. So wird kritisiert, daß die Gewerkschaften verhindert hätten, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zu reduzieren. "Dabei wäre das doch mal ein Versuch gewesen, mit dem man hätte leben können und der die Betriebe von Kosten entlastet hätte", zitiert die Studie. Schließlich habe man auch in der DDR keine 100 Prozent bekommen. Auf Nachfrage des Diskussionsleiters in Leipzig, was die Gewerkschaften tun könnten, antwortete ein Teilnehmer: "Die können uns nicht helfen, wir müssen uns selbst helfen." Auch "rechne sich" die Gewerkschaftsmitgliedschaft nicht, meinten die Leute in Dresden und Leipzig.

Die Ostdeutschen sind mit ihrer Gewerkschaftskritik aber nicht alleine - im Westen sind Mitglieder und Nicht-mitglieder der Ansicht, die Gewerkschaften hielten an Dingen fest, die "dem heutigen Markt nicht mehr entsprechen". Einer hielt dagegen: "Sie können vielleicht das Schiff langsamer sinken lassen."

Vorwürfe wurden hauptsächlich gegen die 35-Stunden-Woche laut: "Die Gewerkschaften haben gesagt, wir brauchen die 35-Stunden-Woche unbedingt! Aber sie haben nicht gesehen, was die Unternehmer daraus machen: Rationalisierung! Was in der 40-Stundenwoche ging, geht jetzt auch in der 35-Stundenwoche!"

Lediglich die Hamburger Diskussionsrunde fällt aus dem Rahmen: "Arbeitnehmer trauen sich heute nicht mehr, aufmüpfig zu sein; die Gewerkschaften trauen sich das noch", war hier zu hören. Oder: "Sie versuchen, unseren Standard zu halten."

Die Bochumer dagegen sahen die Interessenvertreter eher in einer hilflosen Rolle: Alle größeren Aktionen in den letzten Jahren seien von den Arbeitern, von der Basis ausgegangen. Und die Gewerkschaft habe dann gesagt, sie mache mit. Gewerkschaftsfunktionären wird "Vetternwirtschaft" und Betriebsräten "Karrierestreben" vorgeworfen.

Zur Lohnnebenkostendebatte wurde angemerkt, man habe Zweifel, ob bei einer Senkung tatsächlich neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Eher sei vorstellbar, daß die vorhandenen Arbeitsplätze abgesichert werden.

Skepsis ist auch beim Instrument Arbeitszeitverkürzung angesagt. Im Osten wird darauf verwiesen, daß bei einer Unmenge von Überstunden klar sei, daß die Unternehmer Leute wollen, die "mehr und nicht weniger" arbeiten wollen. Im Westen ist man sauer, weil die Gewerkschaften nicht genügend deutlich gemacht hätten, daß Arbeitszeitverkürzung ein Rationalisierungsmittel ist. Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich ist gleich gar nicht gefragt: "Dann müßte ich mir einen Nebenjob suchen, das kann es doch nicht gewesen sein."

Schlechte Noten auch für das Einführen von Modernisierungsbegriffen: Mit der sogenannten Zeitsouveränität kann kaum jemand etwas anfangen. "Flexible Arbeitszeitgestaltung" dagegen ist ein fest eingeführter Begriff - hiervon machen viele Unternehmen je nach Auftrasgslage Gebrauch.

Alles in allem zeigt die Untersuchung, daß es die Gewerkschaften hauptsächlich in den letzten zehn Jahren versäumt haben, bewußtseinsbildende Maßnahmen zu ergreifen. Die Menschen sind offenbar mit der Propaganda der Gegner allein gelassen, die Gewerkschaftspresse vernachlässigt worden - sie ist zu langweilig. Doch trotz dieser kritischen Einstellung gegenüber den Gewerkschaften wünschten sich viele der Diskussionsteilnehmern, daß wieder "mehr Sturm gelaufen" und "mehr Rabatz gemacht" werde.

Wie heißt es doch so schön im Aktionsprogramm? - "Wir setzen auf die Mobilisierung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die gesellschaftliche Solidarisierung, die weit über die Gewerkschaften hinausgehen muß."