In eins nun die Hände

I. »Von Flexi die Schnauze voll«

Neue Studien belegen: Die Beschäftigten wollen nicht mehr an die Wunder der kapitalistischen Modernisierung glauben

Warnfried Dettling hat gerade in der jüngsten Ausgabe der Zeit festgestellt, daß sich am vielgerügten Stillstandort Deutschland einiges bewegt. Beispielsweise verändere der deutsche Korporatismus seine Gestalt. "Nirgendwo ist das deutlicher abzulesen als an der neuen Flexibilität bei den Flächentarifverträgen", schreibt Dettling. Die Tarifparteien seien dabei, einen neuen Konsens zu finden. Dettling verschweigt, daß mit dem neuen Konsens und dem Flexi-Gerede die Erosion der Tarifverträge semantisch verschleiert wird. Nach wie vor beziehen die Tarifverträge ihre Legitimationsbasis aus Normen relativer sozialer Gerechtigkeit. Das sind keine abstrakten Werte, sondern sie leiten sich aus Erfahrungen der negativen Seiten von Lohnarbeit ab: Unterordnung unter betriebliche Herrschaft, fremdbestimmte Arbeit und Ausbeutung.

Hier setzen die Joachim Bergmann, Erwin Bürckmann und Hartmut Dabrowski in ihrer Untersuchung, in der Beschäftigte in verschiedensten Betrieben der Metallindustrie befragt wurden, an: Die normative Basis der Tarifverträge gerät ins Wanken. Wenn Tarifverträge immer flexibler werden, ist es dem Umstand geschuldet, daß eine schleichende Aushöhlung durch Konzessionen stattgefunden hat, die in erster Linie den Betriebsräten vom Management aufgezwungen wurden. Prägende Erfahrung aller befragten Betriebsräte war der in den letzten Jahren stattgefundene Personalabbau. Lediglich in drei der 28 Betrieben - vom Fahrzeugbau, über Zulieferindustrie, Maschinenbau, Elektroindustrie bis zum Schiffsbau und der Stahlindustrie -, aus denen die Befragten kommen, ist die Beschäftigung stabil geblieben. In allen anderen Bereichen beträgt die Beschäftigtenabbauquote zwischen 20 und 80 Prozent. Nach Ursachen des Abbaus befragt, gab die Mehrheit an, neue Produktionskonzepte und die stetige technisch-organisatorische Rationalisierung der Arbeit seien dafür verantwortlich.

Gerade im Zuge von Beschäftigungsabbau werden den Betriebsräten im Rahmen von sogenannter Beschäftigungssicherung die meisten Zugeständnisse abgerungen, wie zum Beispiel Ausweitung der Arbeitszeit oder unbezahlte Überstunden. Insofern sagen einige der Befragten, der Begriff "Beschäftigungssicherung" sei irreführend, da keineswegs die Zahl der Beschäftigten garantiert werde, sondern ein mit Auflagen verknüpfter individueller Kündigungsschutz vereinbart. Die Gratwanderung zwischen individueller Arbeitsplatzgarantie und kollektivem Schutz wird als "schwer aushaltbar" bezeichnet. Der anhaltende Personalabbau läßt auch Zweifel aufkommen, ob Zugeständnisse zweckmäßig sind. Die damit verbundene "neue Unübersichtlichkeit" der Tarifverträge drohe zur Orientierungslosigkeit zu verkommen.

Ein VW-Vertrauensmann bringt das Dilemma auf den Punkt: "Manche Sachen kann ich meinen Kollegen nicht mehr rüberbringen. 1993 sind wir auf die 28,4 Stunden gegangen und mußten auf eine Menge Geld verzichten. Beim nächsten Abschluß hieß es dann, jetzt müssen wir 1,2 Stunden ohne Bezahlung länger arbeiten, damit unsere Arbeitsplätze gesichert werden. Da stimmt doch etwas vorne und hinten nicht. Das verstehe ich nicht und das kann ich auch keinem Kollegen mehr erklären." Kritisiert wird, daß bei vielen Tarifrunden die Ergebnisse "schöngeredet" werden und daß Begründungen für schlechte Rahmenbedingungen je nach Situation nachgeschoben werden. Deutlich wurde, daß die Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben nicht mehr nur agitiert, sondern aufgeklärt werden wollen. "Sich selbst von den gewerkschaftlichen Handlungsmöglichkeiten ein Bild machen" wollen sie, sagen die Autoren.

Auf wenig Gegenliebe stoßen die im Zuge von "Modernisierungs-Debatten" entwickelten neuen Produktionsprozesse und die Neudefinition von "Kern- und Kannfunktionen" von Arbeit. Erschwerend kommt die Betriebsaufspaltung in einzelne "Profitcenter" hinzu. Während Betriebsräte - vornehmlich von der Arbeit freigestellte - diese Prozesse im Prinzip hinnehmen und "gestalterisch" eingreifen, sind solche Veränderungen am Ort der eigentlichen Arbeit Gegenstand von knallharten Interessenkonflikten. Die Kollegen fühlen sich alleine gelassen und haben das Gefühl, sie müßten ausbaden, was "die da oben" ausgekungelt haben. Der Vertrauensmann eines Profitcenters: "Durch unsere regelmäßigen Sitzungen ist man im eigenen Bereich gut informiert. Was aber sonst im Betrieb läuft, kriegt man nicht mehr mit, man verliert den Überblick. Und was in der IG Metall diskutiert wird, ist praktisch gar kein Thema mehr."

Das Wort "Flexibilisierung" hat am Band oder der Werkbank überhaupt keinen guten Klang. Für die meisten bedeutet "Flexi" das Sich-Unterordnen unter den Produktionsprozeß. Durch eine Vielzahl von unterschiedlichen Arbeitszeitregelungen verlieren Tarifverträge ihren verbindlichen Charakter. Für Beschäftigte bedeutet das Destabilisierung der Arbeitszeiten und eine Beeinträchtigung ihrer privaten Lebenssphäre. "Die Kollegen haben die Schnauze voll, und sie sind sauer, weil sie immer kurzfristig auf die Forderungen des Betriebes reagieren sollen", sagt ein Vertrauensmann.

Die 30 Befragten sollten auch die Politik der IG Metall einschätzen. Es gab vier Möglichkeiten, ein Bewertungskreuz zu machen: richtige Richtung, teils-teils, falsche Richtung, nicht zuzuordnen. In die richtige Richtung fährt die IG Metall nur für vier befragte, teils-teils sagen sechs, nicht einordnen wollten drei und in die falsche Richtung geht es für 17 der Befragten. "In letzter Zeit kommt von den Kollegen immer mehr die Kritik, daß sich die Mitgliedschaft in der IG Metall nicht mehr lohnt. Die Kollegen sehen einfach keine Erfolge mehr", ist von einem Betriebsrat zu hören und ein Vertrauensmann ergänzt: "Für die meisten Kollegen sind in den letzten Jahren bei der Standort- und Beschäftigungssicherung nur Kompromisse rausgekommen, von denen der Unternehmer profitiert."

Dezidierte Kritik kam auch an den zentralistischen Entscheidungen des IG Metall-Vorstandes. Für die Autoren war das insofern überraschend, da zur Zeit kein "basisdemokratischer Schub" zu erwarten sei. Allenthalben werde gerade von den Kritikern beklagt, daß die Mitgliederbeteiligung zu wünschen übrig läßt. Vielleicht liegt es ja am fehlenden Feedback. Ins Schußfeld der Kritik gerieten nämlich die Tarifkommissionen, die eigentlich das "der Basis am nächsten" stehende Gremium sind. Außer auf Flugblättern erfahre man von den Tarifkommissionsmitgliedern gar nichts, wird bemängelt; für die meisten sind sie nur "Zustimmungsgremien", die die Linie des Vorstandes abnicken.

Soweit einige wesentliche Punkte aus dem Papier von Joachim Bergmann, Erwin Bürckmann und Hartmut Dabrowski. Vom 20. bis 22. November findet in Darmstadt eine tarifpolitische Tagung der IG Metall über die Zukunft des Flächentarifvertrages statt. Dann soll eine abgespeckte Version der Studie vorgelegt werden. Das 124 Seiten starke Papier kann gegen Porto und Kopierkosten bei Jungle World bezogen werden.