Alles eine Frage der Zeit

Zwei unterschiedliche Konzepte: Bei der ÖTV soll die Basis dem Vorsitzenden folgen, während der IG Medien-Vorsitzende davon ausgeht, daß sich zur Zeit niemand freiwillig hinter der Gewerkschaftsfahne versammelt

Der Vorstoß von ÖTV-Chef Herbert Mai, die Tarifrunde 1998 auf den Herbst 1997 zu verlegen und dabei Arbeitszeitverkürzung mit Beschäftigungssicherung zu koppeln, um dabei über Lohnausgleich mit sich reden zu lassen, stößt bei der ÖTV-Basis nicht nur auf Skepsis, sondern auch auf offenen Widerstand. Die Bezirke Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen wollen Mai die Gefolgschaft verweigern. Aus der ÖTV-Zentrale in Stuttgart ist zu hören, der Vorsitzende würde mit "Unverständnis" auf den Vorwurf reagieren, er probe den Schulterschluß mit den Unternehmern. Am kommenden Wochenende wird die große Tarifkommission der ÖTV über die Marschroute für die nächste Tarifrunde entscheiden.

Unterdessen versucht Mai in unzähligen Konferenzen, seine Vorstellungen zu konkretisieren: Eine Verkürzung der Arbeitszeit "ohne generellen Lohnausgleich" werde es mit ihm nicht geben; bei einer "verbindlich festgeschriebenen" Beschäftigungszusage sei die ÖTV aber bereit, über die Höhe des Lohnausgleichs und der Lohnzuwachsrate mit sich reden zu lassen. Nach den bisherigen Erfahrungen mit der im Öffentlichen Dienst geltenden 38,5-Stunden-Woche sind viele Mitglieder skeptisch, ob eine weitere Arbeitszeitverkürzung mehr Beschäftigung mit sich bringt. Eher wird eine weitere Arbeitsverdichtung und Rationalisierung erwartet. Auch bei den Einkommenseinbußen sei "das Ende der Fahnenstange" erreicht, heißt es aus vielen öffentlichen Betrieben.

Viele Funktionäre befürchten nun, daß es bei der anstehenden Tarifrunde zu einer "Gemengelage von Kompensationsgeschäften" kommen werde, bei der die einzelnen Mitglieder nicht mehr durchblicken. Und das Handelsblatt schrieb dieser Tage, die Themen seien so komplex geworden, daß sich die ÖTV-Mitglieder zwischen Arbeitszeitkonten, Arbeitszeitverkürzung und Kompensationsprozenten kaum noch zurechtfänden: "Dies erschwert die Mobilisierung der Basis, kann dem ÖTV-Chef aber vielleicht den Weg der Einigung erleichtern."

Vielleicht ist das die neue Gewerkschaftstaktik: Die Basis wird so verwirrt, daß sie gar nicht mehr nachvollziehen kann, ob sie verarscht wird. Außerdem gibt es unter den Gewerkschaften in der Arbeitszeitfrage derzeit kein einheitliches Vorgehen. Die 35-Stunden-Woche ist bisher erst in der Druckindustrie, den Zeitungs-und Zeitschriftenverlagen, einigen Bereichen der Holzwirtschaft und in der Metall- und Elektroindustrie in Kraft und betrifft damit noch nicht einmal ein Viertel aller Beschäftigten. Bei VW, in der Eisen- und Stahlindustrie und im Bergbau gibt es Sonderregelungen, die unterhalb der 35-Stunden liegen, und die IG Metall kann erst 1999 über das Thema verhandeln.

Die IG Medien wäre die nächste Gewerkschaft, die den Arbeitszeitvertrag kündigen könnte. IG Medien-Vorsitzender Detlef Hensche schickte jüngst einen Brief an mehrere hundert Funktionäre, in dem es heißt, ein Weg zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit liege in der Verkürzung der Arbeitszeit. Einige Zeilen weiter schreibt er jedoch: "In der Druckindustrie ist die 35-Stunden-Woche erstmals zum 31. März 1998 kündbar. Aus unserer Sicht ist die Zeit nicht reif für eine Kündigung." In den Betrieben gebe es berechtigte Zweifel über Nutzen, Erfolgsaussicht und Durchsetzungschancen neuer Arbeitszeitverkürzungen.

Als Hinderungsgrund für eine neue Arbeitszeitoffensive nennt Hensche die Tatsache, daß die Beschäftigten in Zeiten minimaler Lohn- und Gehaltserhöhungen einer Einkommensverbesserung einen höheren Stellenwert einräumten. Zwar könne man viele Einwände gegen die Arbeitszeitverkürzung widerlegen, doch das ändere nichts daran, daß "die subjektive Belastung und Wahrnehmung" eine andere Sprache sprechen. Mit diesen Erfahrungen hätte sich die IG Medien in den nächsten Wochen und Monaten auseinanderzusetzen.

Die Debatte um die Arbeitszeit will Hensche auf zwei Ebenen führen: Auf der gesellschaftlichen und politischen Ebene müsse ein Klima für eine Politik der Beschäftigung und der Arbeitsumverteilung geschaffen werden. Alternativen zum gegenwärtigen neoliberalen Kurs seien notwendig. Das setze aber die Bereitschaft voraus, daß sich Parteien und andere gesellschaftliche Institutionen für ein derartiges Projekt einsetzten. Auf der betrieblichen und gewerkschaftlichen Ebene seien die Gewerkschaften selbst gefordert, um mit Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern über den zukünftigen Kurs zu reden. Übliche Aktionen zur Mobilisierung wie "Flugblätter und kluge Reden" reichten nicht mehr aus. Der Appell, sich doch bitteschön hinter der Gewerkschaftsfahne zu versammeln, laufe ins Leere, wenn nicht erst über die Ängste und Enttäuschungen der Menschen geredet werde. Hensche empfiehlt den Funktionären der IG Medien, zunächst in betrieblichen und regionalen Konferenzen, möglichst viele Menschen in die Debatte einzubeziehen, um das Feld für eine weitere Arbeitszeit-Offensive zu bereiten.