Terror & Tiramisú

Skalpierte Stadtindianer

Italien 1977: Die autonome Bewegung erreicht ihren Höhepunkt - und zerfällt

"1977 war nicht wie 1968. 1968 war Protest. 1977 war radikal anders. Aus diesem Grund definiert die offizielle Version 1968 als gut und 1977 als schlecht; in der Tat, 1968 wurde reintegriert, während 1977 vernichtet wurde. Aus diesem Grund wird 1977, im Gegensatz zu 1968, niemals ein Jahr einfacher Zelebrierung sein können." (Moroni/Balestrini: Die goldene Horde)

Italien 1977: Besetzte Schulen und Universitäten, Häuser und Fabriken. Massenmilitanz und Straßenkampf bei Demonstrationen, Kundgebungen, Feten. Plünderungen, Gratisfahrten in öffentlichen Verkehrsmitteln, Kino und Konzerte ohne Eintrittskarte. Kollektive, Komitees, autonome Versammlungen. Spontis, Stadtindianer und eine starke autonome Frauenbewegung neben Relikten konventioneller Organisationsstrukturen der "alten" autonomen Massenbewegung.

Dieses Sammelsurium an Personen, Gruppen und Positionen steht für die zweite Phase der italienischen autonomen Bewegung, die 1977 ihren Höhepunkt und Niedergang gleichermaßen erlebte. Hervorgegangen aus Resten der "alten" autonomen Bewegung und ergänzt durch Schüler und Studenten, prekär Beschäftigte und jugendliche Arbeitslose wirkten seit Mitte 1975 diese neuen sozialen und politischen Akteure dem Verfall alter autonomer Strukturen (Potere Operaio, Lotta Continua) entgegen. Hatten sich die Operaisten seit Mitte der sechziger Jahre noch hauptsächlich auf den un- oder minderqualifizierten Massenarbeiter (operaio massa) bezogen, wurden nun die noch stärker marginalisierten Schichten der Bevölkerung zu selbstbewußten Subjekten der Revolte. Auszüge aus dem 77er Programm der Circoli del proletariato giovanile (Zirkel des jugendlichen Proletariats) verdeutlichen dies:

"Wir feiern Feste, weil wir uns vergnügen, zusammen sein wollen, wir wollen das Recht auf Leben, Glück und ein anderes Zusammensein durchsetzen. Wir besetzen Gebäude, weil wir Treffpunkte haben wollen. (...) Wir machen Rundgänge, um die Lehrlinge vor der Überausbeutung zu schützen, um das Dealen mit Heroin zu verhindern, um die Faschisten zu vertreiben. (...) Wir kämpfen und streiken in den Fabriken, weil wir weniger und besser arbeiten wollen, das heißt mit Macht in den Händen. Dies sind die konkreten Dinge, die unsere Bewegung ausdrückt, das ist unser Wunsch nach Kommunismus, das heißt Brot und Rosen."

Diese Politik der unmittelbaren Wiederaneignung des eigenen Lebens (politica di riappropriazone) stellt vor allem durch die Forderung nach weniger Lohnarbeit, bzw. ihrer Abschaffung, einen Bruch zur alten autonomen Bewegung und deren Fixierung auf Arbeits- und Fabrikkämpfe dar. Erst recht erfuhr die kommunistische Partei Italiens (PCI), integraler Bestandteil des italienischen Staates und programmatisch auf den Arbeitsfetisch sowie vor allem auf die Belange der Facharbeiter festgelegt, einen Wandel vom punktuellen Bündnispartner der Bewegung zum politischen Gegner. Mit Folgen: PCI-regierte Städte und Stadtteile setzten den administrativen und polizeilichen Repressionsapparat gezielt gegen die als "Provokateure", "Faschisten" und "Chaoten" bezeichnete linksradikale Jugendbewegung ein. Demonstranten wurden von mit Maschinenpistolen ausgerüsteten Carabinieri erschossen, andere Demonstranten schossen scharf zurück. Rom, Mailand, Bologna und andere Städte wurden zeitweilig militärisch besetzt. Der von der Regierung verhängte Ausnahmezustand erhielt die Zustimmung der PCI und führte zur Kriminalisierung linker und linksradikaler Strukturen und zur Inhaftierung von über 300 Autonomen allein zwischen Frühjahr und Sommer 1977.

Die zunehmende Militarisierung der Auseinandersetzung, von einigen linksradikalen Gruppen durch die Steigerung klandestiner Militanz mitgetragen, beschleunigte den ohnehin stattfindenden Zerfallsprozeß der autonomen Bewegung: Zunehmende Isolation der einzelnen Gruppen, das Fehlen legaler Treffpunkte und Kommunikationsmittel, die Nichtbeachtung feministischer Kritik am traditionellen Rollenverhalten mancher autonomer Kämpfer und die Flucht vieler Jugendlicher in Drogensubkulturen der Großstädte oder esoterische Landkommunen waren schon länger zu bemerken und wurden durch die Militarisierung des Politischen nicht gerade gebremst. Anstatt dem als Antikapitalismus getarnten Antiamerikanismus von großen Teilen der Bewegung mit einer verstärkten Rezeption alter und neuer operaistischer Theorie zu begegnen, propagierten einige linksradikale Organisationen eine Kritik der Erscheinungsebene des Kapitalismus, verbunden mit allerlei Naturmystik: "Wir wollen Grün und daß außer dem 1. Mai auch der erste Frühlingstag ein nationaler Feiertag ist, weil uns die Natur gefällt, die Tiere, die Berge ..." (Circoli, 1977). Oder Esoterik-Kitsch der folgenden Art: "Es ist Zeit, daß das Volk der Menschen in die grünen Täler hinabsteigt, um sich die Welt zurückzuholen, die ihm gehört" (Indiani Metropolitani, 1977).

Als es im April 1979 erneut zu Hunderten von Verhaftungen wegen "Zugehörigkeit zu einer bewaffneten Bande" kam (darunter auch Antonio Negri), hatte die autonome Bewegung Italiens dem nichts mehr entgegenzusetzen.