Terror & Tiramisú

Geiseln der Macht

Noch immer sind in Italien die Nachwirkungen der Notstandsgesetze spürbar. Ein Gespräch über den Kampf für die Freilassung der politischen Gefangenen

Warum beschäftigt ihr euch jetzt mit der Forderung nach Amnestie für die politischen Gefangenen?

Roberto Silvi: Ich war zehn Jahre lang im Exil in Frankreich und habe dort schon 1983 mit Oreste Scalzone (ehemals Potere operaia, dann Autonomia) und anderen eine Initiative für die Amnestie gegründet. Unser Ziel war es, die Diskussion um Amnestie für inhaftierte Genossen und alle, die noch Anklagen im Zusammenhang mit dem bewaffneten Kampf haben, in Gang zu bringen.

Fabrizio Nizzi: Ich bin in einem besetzten Zentrum in Rom aktiv. Dort wird seit einigen Jahren diskutiert, wie die Geschichte der Bewegungen der siebziger Jahre zurückerobert werden kann. Speziell geht es in diesem Kontext eben auch um die bedingungslose Freilassung der etwa 200 politischen Gefangenen sowie darum, daß die über 200 Exilierten zurückkommen können.

Daniele Pifano: Ich habe an den Kämpfen der siebziger Jahre teilgenommen und bin heute ebenfalls in besetzten Zentren aktiv. Aus diesen Zentren heraus ist Rete sprigionare entstanden, als Bündnis für die Eroberung größerer Freiräume. Dazu gehört eben auch - unabhängig von den Fehlern, die begangen wurden -, daß die aus dem Knast kommen, die versucht haben, diese Gesellschaft zu verändern. Vor allem, wenn man bedenkt, daß eben jene die Schlüssel zu den Knästen in den Händen halten, die die diversen faschistischen Bombenanschläge wie auf der Piazza Fontana organisiert haben und sowieso über Leichen gehen.

Die Mischung der verschiedenen Gruppen, die im Bündnis mitarbeiten, ist ungewöhnlich. Wie war es denn möglich, die unterschiedlichen Fraktionen an einen Tisch zu bekommen?

Daniele Pifano: Das Bündnis ist entstanden, weil es für die einzelnen politischen Tendenzen aufreibend war, darum zu kämpfen, bestimmte Gefangene rauszuholen und sich den "Siegern" von damals entgegenzustellen, während diese "Sieger" weiterhin allen Bewegungen mit Repression begegnen. Jeder für sich allein konnte wenig ausrichten. Daher kamen wir zu dem Schluß, man müsse zu einer Einheit finden, die nicht auf Homogenität basiert, sondern darauf ausgerichtet ist, mehr Freiheiten zu erkämpfen.

Das Bündnis soll nicht die Unterschiede verwischen, sondern die verschiedenen Erfahrungen vereinen und die Front verbreitern. Es soll auch Leute einbeziehen, die zwar den Wunsch nach Veränderung teilen, aber nicht die angewandten Mittel.

Ihr sagt, das Bündnis soll die Freiräume erweitern. Die Arbeit scheint aber im wesentlichen auf die Amnestie konzentriert zu sein ...

Daniele Pifano: Das Bündnis will die Freiheiten vergrößern und, was die noch Inhaftierten betrifft, fordert es eine bedingungslose Freilassung. Die Amnestie könnte ein Element sein. Aber wir haben kein Amnestie-Bündnis geschaffen. Diese Forderung hat sich nur als erste aus unserem Zusammenkommen ergeben.

Fabrizio Nizzi: Die Forderung nach mehr Freiheit und die Frage der Gefangenen lassen sich in Italien nicht voneinander trennen. Als Resultat des politischen Konflikts der siebziger Jahre herrscht immer noch die Notstandsgesetzgebung, die damals eingeführt wurde, um die subversiven Bewegungen und bewaffneten Organisationen zu bekämpfen. Dazu gehören höhere Strafmaße, die Ausweitung polizeilicher Befugnisse, eine Verringerung der Freiräume usw. Deshalb ist diese Verknüpfung für die Bewegung in Rom nicht nur offensichtlich, sondern auch eine Verbindung mit der eigenen Geschichte.

Die Notstandsgesetzgebung ist heute noch in den aktuellen Auseinandersetzungen spürbar. Sie ist zum Mechanismus zur Verwaltung sozialer Widersprüche und zum Instrument zur Kontrolle verschiedener sozialer Verhaltensformen geworden. Als sich die Jugendlichen von heute damit auseinandergesetzt haben, sind sie automatisch auf den Zeitpunkt gestoßen, an dem das, was wir heute erleben, zur sozialen Normalität geworden ist. Die bedingungslose Freilassung der politischen Gefangenen wurde folglich als erste Forderung erhoben, um diesen Mechanismus zu überwinden. Schließlich verhindert dieser auch die Möglichkeit ruhigerer sozialer Ausdrucksformen.

Eure politische Geschichte ist sehr unterschiedlich. Roberto, du kommst aus einer Gruppe, die sich generell gegen geschlossene Anstalten gerichtet hat und auch keine Unterscheidung zwischen politischen und sozialen Gefangenen hat machen wollen. Wie kommst du nun dazu, speziell für die Freiheit der politischen Gefangenen zu arbeiten?

Roberto Silvi: Es ist richtig, meine Aktivitäten haben sich gegen alle geschlossenen Anstalten gerichtet, nicht nur gegen Knäste. Auch als ich ins Exil nach Frankreich ging, habe ich diese Position noch vertreten. Aber die Freiheit für die inhaftierten Genossen schien mir ein notwendiger Schritt in Richtung einer umfassenderen Freiheit. Wie Daniele schon sagte, kämpfen wir für größere Freiräume. In den achtziger Jahren ging die Bewegung in Italien stark zurück. Jeder hatte seine eigene Bezugsperson im Knast, und viele betrachteten eine Amnestie als eine Art Kniefall. In der Bewegung gibt es Leute, die in Abwesenheit eines wirklichen Kampfes, einer richtigen Bewegung draußen, jemandem im Knast brauchen, auf den sie sich beziehen können.

Wir gehen davon aus, daß unsere Arbeit der Beginn eines neuen Befreiungsprozesses sein kann. Am Anfang stehen die politischen Gefangenen, weil sie alle Folgen der Notstandsgesetzgebung zu spüren bekommen haben: höhere Haftstrafen, verschärfte Haftbedingungen, zum Teil jahrelange Isolation, usw. Die Gefangenen sind jahrelang eine Art Geiseln der Macht und Druckmittel gegen die Bewegung gewesen. Sie sind der Beweis dafür, daß es den Antiterrorkampf gegeben hat. Und sie sind der Vorwand dafür, den Notstand aufrechtzuerhalten.

Neben unserer Initiative für eine Amnestie existiert noch ein weiterer Vorschlag aus eher institutionellen Kreisen und von Anwälten. Sie schlagen eine Haftverkürzung vor, ein Ansatz, der von einigen Abgeordneten der Rifondazione comunista getragen und von der Rifondazione insgesamt sowie einzelnen Abgeordneten der PDS und anderer Parteien unterstützt wird. Sogar die Faschisten von Alleanza Nazionale (AN) haben einen ähnlichen Vorschlag präsentiert. Deren Vorsitzender Fini hat sich aber im letzten Augenblick dagegen ausgesprochen.

Wie sieht denn die Forderung nach Haftverkürzung genau aus?

Fabrizio Nizzi: In den letzten acht Jahren hat es fünf verschiedene Gesetzesinitiativen zu diesem Thema gegeben. Aktuell geht es um ein Gesetz, das alle Vorschläge zusammenfaßt. Der Entwurf sieht nur eine Haftverkürzung für die Gefangenen vor und berührt nicht das Problem der Flüchtlinge und Exilierten. In Italien gibt es noch über 200 politische Gefangene, aber noch mehr Menschen befinden sich als Exilierte außerhalb des Landes.

Bezieht sich diese Gesetzesinitiative nur auf Gefangene aus dem linken Spektrum?

Fabrizio Nizzi: Nein, auf alle. Ausgenommen sind nur die Beteiligten an den sogenannten Massakern, also den Bombenanschlägen der Faschisten und Geheimdienste. Alle anderen Straftaten sind miteinbezogen. Wer allerdings - sollte die Gesetzesinitiative durchkommen - in den darauffolgenden fünf Jahren wegen ähnlicher, also politischer Straftaten zu einer Strafe von mehr als zwei Jahren verurteilt wird, dem soll der Strafnachlaß wieder aberkannt werden. Hier kann man ganz gut das soziale Druckmittel sehen, das in der Notstandsgesetzgebung steckt.

Um ein Beispiel für das Ausmaß von Strafen in politischen Verfahren zu geben, sei an den Riesenprozeß erinnert, der kürzlich gegen das besetzte Mailänder Zentrum Leoncavallo durchgeführt wurde. 73 Personen wurden dort zu insgesamt über 100 Jahren Knast verurteilt. Andere erhielten Haftstrafen von zwei Jahren, weil sie die Tische einer Wahlveranstaltung der separatistischen Lega Nord umgeworfen hatten.

Hat denn Rete sprigionare mit seinen Forderungen ebenfalls alle Gefangenen im Blick?

Daniele Pifano: Nein, natürlich zunächst nur die Genossen. Aber letztendlich betreffen durchgesetzte größere Freiräume alle. Das ist wie bei einem Kampf für die Verringerung der Brotpreise: das Brot wird eben für alle billiger, auch für die Faschisten, und nicht nur für die Genossen. Wir wollen einfach, daß prinzipiell keine Erpressung hinter dem Gesetz stehen soll. Und es ist wichtig, in die Diskussion einzugreifen und eben nicht die anderen machen zu lassen und nachher zu sagen: "Ich bin nicht einverstanden." Zudem muß die Front verbreitert werden. Bisher war es nie gelungen, die ganzen verschiedenen Strömungen und Tendenzen zusammenzubringen. Wieviel stärker wäre eine Bewegung, wenn man sich auf bestimmte Grundlinien einigt - auch wenn sonst alle verschiedene Ansätze verfolgen.

Roberto Silvi: Es besteht die Gefahr, daß dieses Gesetz zur Haftverkürzung, das wir ohnehin ablehnen, die Situation noch verschlechtert. So könnten wieder Unterscheidungsmerkmale eingeführt werden und die Initiative damit eine weitere Variation des Gesetzes für Abschwörer hervorbringen.

Fabrizio Nizzi: Das Bündnis und die Diskussion sind für uns aber auch ein soziales und politisches Experimentierfeld. Wir wollen herausfinden, was sich seit den siebziger Jahren verändert hat, sprich, was an uns und an der Gesellschaft anders ist. Befreiung heißt, heute einen Weg der Befreiung vom sozialen Standpunkt aus zu entwickeln. Dafür ist es wichtig, sich die eigene Geschichte wieder anzueignen. Das heißt aber auch, zu überlegen, was es heute bedeutet, von Freiräumen, Demokratie und sozialen Kämpfen zu reden und welchen Sinn man diesen Begriffen geben will. In welchem Kontext stehen diese Dinge, und welche Möglichkeiten haben wir, uns von der heutigen Realität ausgehend eine andere Gesellschaft vorzustellen? Dafür ist dieses Experimentierfeld sehr wichtig. Es kommen verschiedene Leute zusammen, die seit Jahren nicht mehr miteinander geredet haben. Diese Reichhaltigkeit ermöglicht Diskussionen und Mobilisierungen, wie wir sie in Italien lange nicht mehr erlebt haben.

Roberto Silvi: Ein großer Erfolg war beispielsweise die Demonstration für die Freilassung der Gefangenen am 10. Mai in Rom, an der über 10 000 Personen teilgenommen haben. Das Wichtigste scheint mir aber die Perspektive der Initiative. Es geht nicht darum, etwas abzuschließen. Die politischen Gefangenen müssen freigelassen werden, und dann können wir weitere Schritte unternehmen. Und zwar auf der Grundlage der bereits gemachten Erfahrungen.

Allerdings ist die Amnestie-Initiative auch in linken Kreisen nicht unumstritten ...

Daniele Pifano: Einige wollen die Forderung nach Freilassung mit einer Bestätigung des bewaffneten Kampfes verknüpft sehen. Das hat hier aber nichts zu suchen. Mir paßt es nicht, daß die Forderung nach Freilassung der Genossen dazu benutzt wird, antagonistische Konzepte vorzuschlagen, die keinen Sinn haben, die wir nicht teilen und die auch keine Unterstützung finden. Die Forderung nach Freilassung der Gefangenen kann nicht einhergehen mit einer Bestätigung der Hegemonie irgend eines politischen Konzepts. Es geht darum, mehr Freiheiten zu erzielen. Danach kann dann jeder das Konzept vorschlagen, das er für richtig hält. Sonst werden die Genossen als Vorwand benutzt, um einen Kampf zu führen, zu dem man sonst nicht in der Lage wäre.