31.07.1997
Der Lübecker Prozeß

Leiche ohne Todesursache

Der Tod des Flüchtlings Sylvio Amoussou wirft weiterhin viele Frage auf.

Für Safwan Eids Rechtsanwältin Gabriele Heinecke wäre die Aufklärung der Todesumstände von Sylvio Amoussou "der Schlüssel zu den wirklichen Geschehnissen in der Brandnacht". Für Rolf Wilcken, den Vorsitzenden Richter im Lübecker Brandprozeß, könnte der 27jährige Migrant in der Nacht, als das Feuer gelegt wurde, jede nur mögliche Rolle gespielt haben: "Vom Opfer bis zum Täter."

Staatsanwalt Michael Böckenhauer brachte - unmittelbar vor Abschluß der Beweisaufnahme - noch eine neue Theorie ins Spiel: Zeugenaussagen würden belegen, daß Amoussou am Abend vor dem Brand Angst gehabt hätte, ins Flüchtlingsheim an der Hafenstraße zurückzukehren, weil er einen Konflikt mit Safwan Eid befürchtet hätte. Beide sollen, so meinte der Ankläger zu wissen, in gemeinsame Drogengeschäfte verwickelt gewesen sein. Doch schon nach der flüchtigen Lektüre der Polizeiprotokolle, die Böckenhauer dem Gericht vorlegte, stand zweifelsfrei fest: Die angeblich brisanten Unterlagen belegen genau das Gegenteil von dem, was Böckenhauer aus ihnen herauszulesen glaubte. Die angebliche Belastungszeugin Nicole V. hatte in der Vernehmung betont, die ihr zugeschriebenen Aussagen seien niemals gefallen.

Sylvio Amoussou kann zu all dem nichts mehr sagen. Der Migrant aus Togo starb im hölzernen Vorbau der niedergebrannten Unterkunft. Die Todesumstände sind bis heute völlig ungeklärt. Einmal mehr deutet die Aktenlage an diesem Punkt auf erhebliche Ermittlungslücken der Ankläger hin. Während des gesamten Verfahrens konnte die Staatsanwaltschaft für Amoussous Tod keine plausible Erklärung anbieten - die Leiche will einfach nicht in ihr Brandszenario passen, nachdem das Feuer nur durch BewohnerInnen der Flüchtlingsunterkunft gelegt worden sein kann.

Ungeklärt blieb bis heute, warum der Flüchtling offenbar keinen Rauch eingeatmet hat, bevor er starb. Anders als bei allen anderen Brandopfern finden sich in seinen Atemwegen und seiner Lunge weder Rußpartikel noch Kohlenmonoxid. Der Direktor des Rechtsmedizinischen Institutes der Uniklinik Lübeck, Prof. Dr. Manfred Oehmichen, war sich deshalb nach der Obduktion der Leiche sicher, daß Amoussou nicht durch das Feuer zu Tode gekommen sein kann. Doch Oehmichen fand auch keinerlei Spuren äußerer Gewalteinwirkung.

Dafür machte der Pathologe eine andere wesentliche Entdeckung: "Der Leiche aufgelagert und locker um die Leiche herumgewunden", vermerkte er in seinem Bericht, "findet sich ein dünner Draht, der verrußt ist." Wie und wann die etwa zwei Meter lange Metallschnur an Amoussous Körper kam, konnte in den 60 Verhandlungstagen nicht geklärt werden. Obwohl das Gutachten des Rechtsmediziners mehr Fragen aufwirft als es beantwortet, erkannten die Ermittler schon unmittelbar nach dem Anschlag keinen weiteren Aufklärungsbedarf. Bereits am 29. Januar 1996, elf Tage nach dem Feuer, gab Staatsanwalt Böckenhauer die Leiche des Brandopfers zur Feuerbestattung frei.

Der Fundort der Leiche läßt ebenfalls Fragen offen. Amoussou starb nicht auf der Flucht vor einem Feuer, das nach Auffassung der Ermittler zunächst im ersten Stock gewütet haben soll. Die Leiche des 27jährigen wurde in einer Ecke des Vorbaus, abseits des möglichen Fluchtweges, geborgen. Direkt daneben befindet sich der Durchgang zum Erdgeschoß des Hauses, das in der Brandnacht vom Feuer verschont blieb. Auch wenn es - wie das Gericht vermutet - einen zweiten "primären Brandausbruchsort" an der Eingangstür des Vorbaus gegeben haben sollte, bleibt unklar, warum es Amoussou nicht gelang, sich mit ein, zwei Schritten in den flammenfreien Bereich zu retten.

Auf all diese Fragen haben die Ermittler bis heute keine Antworten gefunden. Sie haben es nicht einmal versucht. In ihrer Anklageschrift bringen die Staatsanwälte die Theorie ins Spiel, daß Amoussou durch einen Atemstillstand, ausgelöst durch plötzlichen Sauerstoffmangel, starb, noch bevor er giftige Brandgase einatmen konnte. Um diese Hypothese zu stützen, kramten sie eine alte Studie aus Norwegen hervor, in der nachzulesen ist, daß aus unbekannten Gründen bei acht von 286 untersuchten Brandopfern keine erhöhten Kohlenmonoxid-Werte im Blut und kein Ruß in der Lunge gefunden wurde. Der Fall ist damit für die Ankläger erledigt: Der Tote gehört zu den ganz seltenen Brandopfer, bei denen sich unerklärlicherweise keine Rauchgasspuren im Organismus nachweisen lassen.

Der mysteriöse Draht erregte wochenlang nicht einmal das Interesse der Staatsanwaltschaft. Erst als die Verteidigung den Lübecker Oberstaatsanwalt Klaus-Dieter Schultz mit der Nase auf den Vermerk des Rechtsmediziners stieß, wurden die Ermittler aktiv. Fast drei Monate nach der Obduktion schickten sie einen Kriminalbeamten in die Rechtsmedizin, um sich dort ein verkohltes Stück Draht aushändigen zu lassen. Obwohl Eisen durch intensive Feuereinwirkung korrodiert, ist der Draht, der schließlich in der Asservatenkammer landet, an mehreren Stellen nicht verrostet, sondern blitzblank. Als die Ermittler schließlich die Brandruine inspizierten, finden sie im gesamten Haus kein einziges Stück Metall, daß in seiner Beschaffenheit der Metallspule gleicht, die um Sylvio Amoussous Körper gewickelt war. Die Herkunft des Drahtes blieb ungewiß.

Der Erklärungsnotstand der Ankläger ging aber noch weiter. Kein Opfer wies dermaßen starke Verbrennungen auf wie Amoussou. Dafür gibt es bislang nur zwei plausible Deutungen: Entweder hat es im hölzernen Vorbau am längsten - und damit zuerst - gebrannt, oder es hat eine besonders starke Hitzeentwicklung gegeben, die darauf schließen läßt, daß hier Brandbeschleuniger im Spiel waren. Beide Szenarien aber bestärken allein die These der Verteidigung, nach der der Brand im Vorbau seinen Ausgang nahm und möglicherweise von Tätern gelegt worden ist, die sich von außen Zutritt verschafften.

Draht, Fundort und Verbrennungsgrad der Leiche sowie die fehlenden Rußspuren in den inneren Organen deuten darauf hin, daß Amoussou möglicherweise das Opfer eines Verbrechens geworden ist und der Brand nur eine "Verdeckungsstraftat" war - daß er gelegt wurde, um Spuren zu verwischen. Obwohl diese Variante nie planmäßig ermittelt wurde, findet sich in den umfangreichen Ermittlungsakten zumindest eine Spur in diese Richtung. Auch sie wurde von den Anklägern jedoch nicht weiter verfolgt.

Aktenkundig ist: Annegret G., die ehemalige Freundin von Sylvio Amoussou, wurde wenige Monate vor dem Inferno in der Lübecker Hafenstraße selber Opfer eines Brandanschlags. Unbekannte hatten der ehemaligen Prostituierten, die von der Lübecker Polizei als V-Frau im Rotlichtmilieu eingesetzt worden war, einen Molotow-Cocktail in die Wohnung geschleudert. Die bei der Polizei als "gefährdete Person" eingestufte Frau, die auch nach dem Anschlag mehrfach anonym bedroht worden war, gab später eine Vermutung zu Protokoll: Ihre Verfolger hätten sich "möglicherweise" an ihren Freund Amoussou gehalten. Immerhin habe der Flüchtling noch zwei Tage vor seinem Tod einen der regelmäßigen Drohanrufe gegen seine Freundin entgegengenommen.

Daß die Spur ins Lübecker Rotlichtmilieu niemals aufgenommen wurde, hat eventuell einen einfachen Grund. Die Drogenfahnder Detfred D. und Immanuel D., die Annegret G. als V-Frau betreut hatten, saßen auch in der Sonderkommission zur Aufklärung des Lübecker Brandanschlages. Die beiden Beamten konnten kein gesteigertes Interesse daran haben, daß die Geschichte um Annegret G. publik wird. Denn einer der beiden Beamten war zuvor polizeiintern unter Druck geraten, weil er aus "ermittlungstaktischen" Gründen verhindert hatte, daß eine Vergewaltigungsanzeige der ehemaligen Prostituierten aufgenommen wurde. Da es Hinweise darauf gegeben hatte, daß die Täter aus dem Drogenmilieu kamen, hatte der Beamte befürchtet, daß die Vergewaltigungsermittlungen seine eigenen Rauschgift-Recherchen behindern könnten.

Für die Staatsanwaltschaft aber ist auch diese Spur "abgearbeitet" - wie alle Fährten, die nicht in Richtung des freigesprochenen Safwan Eid führen. "Nach gesicherten Erkenntnissen besteht kein Zusammenhang zu der Brandstiftung in der Lübecker Hafenstraße", verlautbarte Oberstaatsanwalt Klaus-Dieter Schultz bereits Anfang April. Begründet hat Schultz das nicht.