Zum Tod des US-amerikanischen Schriftstellers Paul Auster

Von den letzten Dingen

Paul Austers Herkunft und das Bewusstsein, als Jude im 20. Jahrhundert mit der Geschichte leben zu müssen, haben sein literarisches Werk stärker geprägt, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Ein Nachruf.
Nachruf Von

»Und so, mit dem Wind im Gesicht und einer immer noch blutenden Stirnwunde, macht unser Held sich auf den Weg, Hilfe zu suchen, und als er das erste Haus erreicht und an die Tür klopft, beginnt das letzte Kapitel der Saga von S. T. Baumgartner.« So lautet der letzte veröffentlichte Satz des am 30. April im Alter von 77 Jahren verstorbenen New Yorker Autoren Paul Auster.

Der Satz entstammt dem 2023 erschienenen Roman »Baumgartner«, der mit einem Neubeginn endet und viele Themen in sich birgt, die sich durch das umfangreiche Werk Austers ziehen: Zufall, Identität, Neuanfang, aber auch der Tod und das Verschwinden. In den zahlreichen Nachrufen und Erinnerungen, die in den letzten Tagen erschienen sind, wurde die Bedeutung seiner frühen Werke betont, es sind die drei Romane der sogenannten New-York-Trilogie, der Liebesroman »Mond über Manhattan« oder die Dystopie »Im Land der letzten Dinge«.

Erzähl­geflecht über Tod, Zufall und Verschwinden

Tatsächlich sind dies die Bücher, die als prägende Lektüre in Erinnerung bleiben werden. Viele ihrer Prot­ago­nisten tauchen in weiteren Büchern Austers als Nebenfiguren wieder auf, wodurch die Themen des einen Romans in den anderen übertragen und Teil des subtilen Erzähl­geflechts über Tod, Zufall und Verschwinden werden. Auster hat seine Themen und Motive stets variiert und neu kombiniert, so dass es ihm gelingt, im Leser über einzelne Sätze oder Namen eine Erinnerung an die von ihm entworfene Welt auch im späteren Werk wieder wachzurufen – ein Verfahren, das dem »Madeleine-Effekt« Marcel Prousts ähnelt. Ausgehend von einem blitzartigen Ereignis, einem kleinen Verweis entfaltet sich ein ganzes Universum.

Auster hat seine Themen und Motive stets variiert und neu kombiniert, so dass es ihm gelingt, im Leser über einzelne Sätze oder Namen eine Erinnerung an die von ihm entworfene Welt auch im späteren Werk wieder wachzurufen.

Auf das Werk Prousts hat sich Auster oft bezogen, ohnehin sind es vor allem europäische Autoren, die den studierten Literaturwissenschaftler geprägt haben, darunter Franz Kafka, Samuel Beckett, Paul Celan, Miguel de Cervantes, Edmond Jabès, Stéphane Mallarmé, Georges Perec, Hugo Ball und Kurt Schwitters. Mit ihnen hat er sich in seinen Essays ausführlich beschäftigt, in seinen Romanen werden sie herbeizitiert. Eine beson­dere Rolle spielt für ihn der französische Autor François-René de Cha­teau­bri­and, Mitbegründer der literarischen Romantik, dessen Autobiographie »Mémoires d’outre-tombe« von David Zimmer, Protagonist in Austers »Buch der Illusionen«, ins Englische übersetzt wird. Cha­teau­bri­ands postum veröffentlichtes Werk zeichnet sich durch einen sehr freien Umgang mit der eigenen ­Biographie aus, Fiktives vermischt er mit tatsächlich Erlebtem.

Austers Sohn Daniel starb an einer Überdosis Heroin

Genau umgekehrt verfährt Auster, der in seine Fiktionen immer wieder Aspekte seiner Biographie einbaut. In »Stadt aus Glas«, dem Auftakt seiner New-York-Trilogie, taucht der Autor selbst als Figur auf. Der Schriftsteller Paul Auster wird von Daniel Quinn, dem Protagonisten des Romans, in seiner Wohnung in Brooklyn aufgesucht, wo er auch dessen Familie kennenlernt: »Daniel, das ist Daniel«, stellt er dem Besucher seinen Sohn vor, und: »Das ist meine Frau Siri.« Nicht alle Anspielungen in den Romanen sind so leicht zu entschlüsseln wie dieser Verweis auf Austers Ehefrau, die Schriftstellerin Siri Hustvedt, und seinen Sohn aus erster Ehe, Daniel, der 2021 an einer Überdosis Heroin starb.

Weniger offensichtlich sind die Verweise auf die eigene Herkunft. So heißt es im »Buch der Illusionen« von 2002 über den Geburtsort des Stummfilmstars Hector Mann, mit dem sich der Protagonist, ein Literaturwissenschaftler und Übersetzer, beschäftigt hat: »Stanislaw liegt südlich des Dnjestr, etwa in der Mitte zwischen Lwow und Tschernowitz in der Provinz Galizien. Wenn Hector dort seine Kindheit verlebt hat, besteht guter Grund zu der Annahme, dass er als Jude geboren wurde.« Dieser Ort, der bis 1918 unter dem Namen Stanislav zu Österreich und bis 1939 als Stanisławów zu Polen gehörte, taucht schon in Austers Prosadebüt »Die Erfindung der Einsamkeit« von 1982 über das Leben und den plötzlichen Tod seines Vaters auf. In dem Roman erfährt man, dass Austers Vorfahren – ebenso wie der erste jüdische Bürgermeister von Jerusalem, Daniel Auster – aus Stanislaw stammten und in die USA ausgewandert waren. Nur wenige Jahrzehnte später wird die Mehrheit der 25.000 dort lebenden Juden ­unter nationalsozialistischer Besatzung 1942 in das Vernichtungslager Treblinka deportiert und ermordet werden.

Herkunft und das Bewusstsein, als Jude im 20. Jahrhundert mit der Geschichte leben zu müssen, haben das Werk Austers stärker geprägt, als es auf den ersten Blick scheinen mag. »Ich habe euch von der Schwierigkeit gesprochen, Jude zu sein, die sich mit der Schwierigkeit zu schreiben vermischt«, hat Auster in einem Essay den 1912 geborenen französischen Dichter Edmond Jabès zitiert, »denn Judentum und Schreiben sind das gleiche Warten, die gleiche Hoffnung.« Das Motiv vom Schreiben als Warten und als Hoffnung, aber auch als Hoffnungslosigkeit, findet sich auch in Austers eigenen Texten wieder, ebenso wie Fragen nach seiner jüdischen Identität. Jabès’ »Buch der Fragen«, erschienen 1976, sei ein Mosaik aus Fragmenten, schreibt Auster weiter, die »endlos um die zentrale Frage des Buches kreisen: Wie lässt sich sagen, was nicht gesagt werden kann? Die Frage ist der Holocaust, aber es ist auch die Frage nach der ­Literatur selbst.«

Subtile Hinweise auf die Vernichtung der europäischen Juden

In seinen Romanen überschreitet Auster den Rahmen der Fiktion, ­indem er seine jüdische Herkunft in die Erzählung einbezieht. Dies geschieht, in dem er subtile Hinweise auf die Vernichtung der europäischen Juden gibt, etwa wenn nebenbei erwähnt wird, dass Romanfiguren KZ-Nummern auf ihren Armen tätowiert haben. Reflexionen über jüdisch-amerikanische Identität finden sich dann vor allem in Essays und autobiographischen Schriften. Sie unterlegen das Prosawerk mit einem Subtext, der ähnlich wie im Werk Jabès’ um die Frage kreist, wie sich sagen lässt, was nicht gesagt werden kann.

Auster sagt es, indem er es nicht sagt. Der Holocaust ist die Leerstelle des Werks, das beständig um Verlust, Trauer, Zufall, Unglück und den Bruch der Identität kreist.

Der 1982 erschiene Roman »Die Erfindung der Einsamkeit«, eine autobiographisch-essayistische Prosaarbeit, markiert den Ausgangspunkt von Austers Schreiben. In der Einsamkeit seines Zimmers wird der jüdische Autor seiner selbst gewahr: »Erinnerung als ein Zimmer, als ein Körper, als ein Schädel, als ein Schädel, der das Zimmer umschließt, in dem der Körper sitzt.« Dann bricht die Erinnerung an andere Autoren ein, an Verfolgte wie Anne Frank oder Israel Lichtenstein, die unter allen Umständen am Schreiben festhielten.

Das Verschwinden von Menschen, Dingen und Worten

Aus dieser Perspektive heraus hat Auster sein komplexes literarisches Werk erschaffen, das mal offen wie im Roman »Im Land der letzten Dinge«, in dem ein Rabbi die prekäre Lage des Judentums reflektiert, mal subtil wie in der Erzählung »Die Musik des Zufalls«, in der die Protagonisten als Zwangsarbeiter eine sinnlose Mauer errichten müssen, jüdische Geschichte spiegelt.

»Jeder Jude glaubt, der letzten Generation der Juden anzugehören«, heißt es in der Science-Fiction-Dystopie »Im Land der letzten Dinge« von 1987, die das Verschwinden von Menschen, Dingen und Worten beschreibt, wie es die jüdische Protagonistin Anna Blume erfährt. »Wir sind immer am Ende, stehen immer am Rand des letzten Augenblicks, und warum sollten wir uns jetzt einbilden, es verhielte sich anders.«

Paul Austers Werk wird nicht so schnell verschwinden, sondern hoffentlich noch lange nachhallen.