Das Schachturnier in Toronto brachte kreative Eröffnungsneuerungen, bittere Niederlagen und hart erkämpfte Siege

Zerstörte Träume

Der 17jährige Dommaraju Gukesh hat das Kandidatenturnier in Toronto gewonnen und darf nun den Schachweltmeister Ding Liren herausfordern.
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Ein Drehbuch hätte kein dramatischeres Finale des offenen Kandidatenturniers 2024 liefern können, das in den ersten drei Aprilwochen gleichzeitig mit dem Kandidatenturnier der Frauen in Toronto stattfand. Der Gewinner des Turniers ­erhält das Recht, den amtierenden Schachweltmeister zum Kampf um den Titel herauszufordern. Nach 13 nervenaufreibenden Runden voller kreativer Eröffnungsneuerungen, bitterer Niederlagen und hart erkämpfter Siege saßen sich in der letzten Runde jene vier Spieler an zwei Brettern gegenüber, die noch auf einen Turniersieg hoffen durften.

Der zurzeit amtierende Schachweltmeister Ding Liren befindet sich in denkbar schlechter Form. Nach einer längeren Pause schnitt er in den letzten drei Turnieren desaströs ab. Wer auch immer das Kandidatenturnier gewinnen würde, konnte sich als Herausforderer gute Chancen auf den Titel ausrechnen.

In der 14. Runde spielte der US-Amerikaner Hikaru Nakamura mit den weißen Steinen gegen den 17jährigen Inder Dommaraju Gukesh. Gukesh war es eine Runde zuvor gelungen, sich um einen halben Punkt (den es für ein Remis gibt) vom Feld zu distanzieren. Ein Remis genügte ihm demnach, um mindestens ins Tie-Break – ein Stechen im schnelleren Zeitformat – gehen zu können.

Nakumura wollte nur Content kreieren

Nakamura hingegen musste gewinnen. Nakamura ist der bekannteste Schach-Streamer auf Youtube und Twitch. Er wurde das Turnier über nicht müde zu betonen, wie wenig ihn der Turniersieg interessiere, er sei lediglich da, um Content zu kreieren.

Tatsächlich blieb Nakamura diesem Versprechen auch treu und lieferte nach jeder Runde eine Videoanalyse seines Spiels. Den interessantesten Content – einen Kampf um den Weltmeistertitel – verpasste er jedoch: Es gelang ihm nicht, Chancen gegen Gukesh zu erzeugen, der die Partie souverän in Richtung Remis dirigierte.

Beide Spieler fühlten sich als Verlierer: »I am very sorry«, sagte Nepomnjaschtschij, nachdem er mit dem am Boden zerstörten Caruana noch ein paar Zugfolgen durchgegangen war. Der antwortete nur »my fault« und brach auf zur Pressekonferenz.

Gukesh war zu Beginn des Turniers einer der Underdogs. Er gehört zu der neuen Generation junger Großmeister, die erst kürzlich den ELO-Wert von 2.700 überschritten haben und seitdem unermüdlich zur Welt­spitze streben. Der ELO-Wert misst die Spielstärke im Vergleich zu anderen Spielern. Außer ihm hatten aus Indien noch Vidit Santosh Gujrathi, der mit 29 Jahren schon fast zum alten Eisen gehört, und der 18jährige Rameshbabu Praggnanandhaa am Kandidatenturnier teilgenommen.

Auch wenn beide letztlich im Mittelfeld landeten, gelang ihnen doch eine respektable Leistung. Insbesondere Praggnanandhaa überraschte mit seinem so riskanten wie unterhaltsamen Eröffnungsspiel. Alireza Firouzja, eigentlich einer der virtuosesten Spieler der Gegenwart, fiel hingegen weit hinter die Erwartungen zurück und landete nur auf dem vorletzten Platz, vor dem chancenlosen Nijat Abasow.

Seltene Konstellation im Profischach

Während Gukesh also remisierte, entfaltete sich am Nachbarbrett eine Tragödie. Der US-Amerikaner Fabiano Caruana bemühte sich, mit den ­weißen Steinen den zweimaligen Turniergewinner Jan Nepomnjaschtschij zu bezwingen. Caruana hatte ein phantastisches Jahr hinter sich, kletterte in den Rating-Listen immer dichter an die Nummer eins der Welt, Magnus Carlsen, heran und galt den meisten Experten als Favorit im Turnier. Ein Sieg gegen Nepomn­jasch­tschij würde ihm das Stechen im Schnellschach gegen Gukesh bringen, wo Caruana voraussichtlich im Vorteil wäre. Umgekehrt brauchte ­Nepomnjaschtschij allerdings auch unbedingt den Sieg gegen Caruana – dass beide Spieler gezwungen sind, auf Sieg zu spielen, ist eine sehr seltene Konstellation im Profischach.

Nepomnjaschtschij, der das Kandidatenturnier im Vorjahr vollkommen dominierte, war auch in diesem bislang ungeschlagen. Mit beeindruckender Resilienz blieb er trotz einiger wackeliger Situationen mit schwarzen Steinen unbezwungen. Der Russe spielte dieses Jahr unter der Flagge des Weltschachverbands FIDE, da Russland von den Turnieren ausgeschlossen ist.

Politisch brisant bleibt die Teilnahme aber dennoch. Zwar hatte sich Nepomnjaschtschij zu Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine davon distanziert, allerdings werden seine Siege dennoch vom kremltreuen russischen Schachverband gefeiert. Ein Weltmeistertitel für Nepomnjasch­tschij würde ungeachtet seiner Intentionen sicher für russische Propaganda missbraucht werden.

Verstrickungen von Schach und russischer Politik

Deshalb gab es auch einiges Stirnrunzeln, als publik wurde, dass der deutsche Bundestrainer Jan Gustafsson den russischen Kandidaten bei diesem Turnier als Sekundant unterstützt. Auf Anfrage der Schach-Nachrichtenseite Perlen vom Bodensee teilte der Deutsche Schachverband mit, man halte dort Gustafssons Engagement für »vertretbar«.

Noch deutlicher sind die Verstrickungen von Schach und russischer Politik im Kandidatinnenturnier der Frauen. Jekaterina Lagno und Aleksandra Gorjatschkina hatten beide in Propagandaturnieren des aggressiven Kriegsbefürworters Sergej Karjakin gespielt. Der übliche Handschlag blieb mit der ukrainischen Kandidatin Anna Musytschuk aus. Diese konnte im Turnier nicht zu ihrer Form finden und ließ einige Gewinnstellungen liegen. Die Zumutung, gegen Spielerinnen antreten zu müssen, die durch ihr Handeln den Krieg gegen ihr Herkunftsland rechtfertigen, dürfte ihre Spielstärke sicher nicht verbessert haben.

Zurück zu den Männern: In der Partie gegen Caruana sah es lange Zeit so aus, als würde Nepomnjasch­tschijs Serie ohne Niederlagen ein rasches Ende finden. Caruana überspielte seinen Kontrahenten im Mittelspiel und baute dann mit großer Präzision einen entscheidenden Vorteil aus, bis es unmöglich schien, dass ein Spieler seines Formats diese Stellung nicht gewinnt.

Dann verlor Caruana unter Zeitnot offenbar die Nerven. Er gab seinen Vorteil auf, erlangte ihn wieder, gab ihn wieder auf. Nepomnjasch­­tschij fand in aussichtsloser Stellung ständig Züge, die seinem Gegner neue Fragen stellten, auf die der schließlich keine Antworten mehr fand. Die Partie endete remis.

Beide Spieler fühlten sich aber offenbar als Verlierer. »I am very sorry«, sagte Nepomnjaschtschij, nachdem er mit dem am Boden zerstörten Caruana noch ein paar Zugfolgen durchgegangen war. Der antwortete nur »my fault« und brach auf zur Pressekonferenz.

Es liegt eine gewisse Traurigkeit über diesem Event, die in der minimalistischen Poesie dieses Dialogs verdichtet ist. Beide haben gerade den Lebenstraum des jeweils anderen zunichte gemacht und können – wie immer im Schach – doch niemand anderem die Schuld geben als sich selbst.

Gukesh ist der jüngste Gewinner des Kandidaten­turniers aller Zeiten und hat damit unbestreitbar die Ansprüche seiner Generation angemeldet, die ältere zu beerben.

Vielleicht werden sie eines Tages zu den großen Spielern wie Viktor Kortschnoi gezählt werden, die zu den besten ihrer Zeit gehörten, aber nie den Weltmeistertitel innehatten. Der Moment machte beklommen. Zusätzlich zu den persönlichen Niederlagen verstärkte der Generationenwechsel die melancholische Abschiedsstimmung: Gukesh ist der jüngste Gewinner aller Zeiten des Kandidatenturniers und hat damit unbestreitbar die Ansprüche seiner Generation angemeldet, die ältere zu beerben.

Im Kandidatenturnier der Frauen gab es indes in der letzten Runde keine Überraschungen. Tan Zhongyi konnte mit einem Remis gegen ­Musytschuk den Turniersieg sichern und wird damit die Weltmeisterin Ju Wenjun herausfordern. Tan, selbst Titelträgerin von 2017 bis 2018, hatte einen hervorragenden Turnierlauf und lediglich in der achten Runde einen Einbruch, bei dem Gorjatschkina und Lei Tingjie zu ihr aufschließen konnten. Zu Hilfe kam Tan letztlich Rameshbabu Vaishali, die ältere Schwester Praggnanandhaas, die in einem atemberaubenden Comeback Gorjatschkina in der elften und Lei in der 13. Runde besiegte. Gemeinsam mit Lei und Koneru Humpy belegte sie nach sensationellen fünf Siegen in Folge den zweiten Platz.

Chance vertan

Der Plan der FIDE, dem Kandidatinnenturnier der Frauen mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen, indem es zur selben Zeit wie das offene stattfindet, dürfte nicht aufgegangen sein. Die Zugriffszahlen auf die Streams sprechen eine eindeutige Sprache. Eine typische Metrik sah so aus, dass 30.000 Menschen dem offenen und rund 300 dem Turnier der Frauen zusahen.

Auch wurde die Chance vertan, die Ruhetage zeitversetzt stattfinden zu lassen, so dass Interessierte zumindest an diesen Tagen hätten motiviert werden können, den Stream zu wechseln. Schach ist ein Sport, der von den Fans viel verlangt: Will man mitfiebern, muss man mitdenken. Das ist trotz hilfreicher Kommentare schon bei vier parallelen Partien recht fordernd, acht Partien gleichzeitig live zu verfolgen, dürfte für ­einen großen Teil der Schachbegeisterten schlicht zu viel sein.

Auch sonst leidet der Sport unter seinem Dachverband. Peter Heine Nielsen, Coach von Magnus Carlsen und scharfer Kritiker der FIDE, monierte nach dem Turnier auf X das Fehlen des FIDE-Präsidenten bei der Abschlusszeremonie. Der Präsident von FIDE ist Arkadij Dworkowitsch, der von 2012 bis 2018 Stellvertretender Ministerpräsident der Russischen Föderation war. Ihm wurde kein Visum zur Einreise nach Kanada gewährt. Der russische Einfluss ­isoliert die FIDE politisch, was sicher auch noch der Fall sein wird, wenn Gukesh und Ding im November gegeneinander antreten.