Der Horrorfilm »Longlegs« ist eine Hommage an »Das Schweigen der Lämmer«

Die heimgesuchte Kernfamilie

Erinnert nicht von Ungefähr an »Das Schweigen der Lämmer«: Im Horrorfilm »Longlegs« von Regisseur Osgood Perkins ist eine junge ­FBI-Agentin einem Serienmörder auf der Spur, der sogar noch gruseliger ist als »Buffalo Bill«.

Die Urteile der Fachwelt fallen alles andere als positiv aus. So wies etwa das Cinematic Serial Killer Project, eine Forschungsgruppe der Chicago School of Professional Psychology, im September in einem kurzen Arbeitsbericht darauf hin, dass Filme über Serienmörder zur Legendenbildung beitrügen: Dass solche Täter ausschließlich weiß, männlich, psychopathisch, lustgetrieben oder auf eine bestimmte Mordwaffe fixiert seien, wie es in Spielfilmen überwiegend dargestellt werde, entspreche nicht den Tatsachen.

Das Magazin Psychology Today kritisiert das Genre des Serienkillerfilms dafür, der Öffentlichkeit »mit sensationsgierigen, stereotypen Darstellungen« ein falsches Bild zu vermitteln. Es hält fest: »Trotz der in jüngster Zeit gewach­senen Erkenntnisse über Serienmörder halten sich viele gesellschaftliche Mythen über diese hartnäckig. Dazu gehören: Sie sind böse Genies (die meisten sind von durchschnittlicher Intelligenz); sie sind alle Männer (ungefähr 15 Prozent der Serienmörder sind Frauen); und sie sind dysfunktionale Einzelgänger (viele haben Familien und genießen in ­ihrem Umfeld hohes Ansehen).«

Die Haupthandlung von »Longlegs« spielt in den neunziger Jahren, in denen »Das Schweigen der Lämmer« in die Kinos kam, und die Ausstattung des Films ist durchaus zeitgetreu.

Solche Vorwürfe muss sich »Longlegs« nicht gefallen lassen. Geht es den Kritikern vom psychologischen Fach vorwiegend um die fehlende Tatsachentreue filmischer Darstellungen von Serienkillern, so wartet der Film des Regisseurs Osgood »Oz« Perkins mit einem denkbar unrealistischen Mehrfachmörder auf, dessen Erscheinung und Fähigkeiten wirken, als seien sie nicht von dieser Welt.

Longlegs, so der Name dieser unheimlichen, von Nicolas Cage gespielten Figur, sorgt auf rätselhafte Weise dafür, dass Familienväter im trauten Heim ihre Kinder und Frauen auf grausame Weise ermorden und sich dann selbst töten. Er hinterlässt dabei weder Spuren seiner DNA noch eines gewaltsamen Eindringens in die Häuser. Doch stets findet sich am Ort des Blutbads ein Zettel, auf dem seltsame Symbole und der Name »Longlegs« stehen.

Fotos verstümmelter Leichen

Die junge FBI-Agentin Lee Harker (Maika Monroe, bekannt aus »It Follows«) wird wegen ihrer Intuition, die ebenfalls nicht von dieser Welt zu sein scheint, zu den Ermittlungen im Fall Longlegs hinzugezogen. Im Lauf der Geschichte, die Perkins in drei Kapiteln erzählt, tut sie, was Beamte in solchen Filmen eben tun müssen: Sie begutachtet Fotos verstümmelter Leichen, besichtigt finstere Tatorte, entschlüsselt Symbole, löst Zahlenrätsel und begegnet dem Bösewicht schließlich von Angesicht zu Angesicht – womit die Geschichte allerdings längst nicht endet, weil das Grauen der Agentin nähersteht, als diese und die Zuschauer anfangs ­ahnen.

Junge FBI-Agentin jagt Serienkiller – diese Prämisse ist aus »Das Schweigen der Lämmer« bekannt. In dem mit allerlei Oscars ausgezeichneten und auch kommerziell überaus erfolgreichen Film von 1991 muss ­Jodie Foster als Agentin Clarice Starling das Morden des Serientäters »Buffalo Bill« (Ted Levine) beenden. Sie erhält dabei Hilfe von dem ebenso genialen wie furchterregenden Psychiater Hannibal Lecter (Anthony Hopkins), der im tristen Keller einer forensischen Institution eingesperrt ist, weil zu seinem bevorzugten Speiseplan neben Favabohnen und Chianti auch menschliche Leber gehört.

Regisseur Perkins macht keinen Hehl aus dem großen Vorbild. Die Haupthandlung von »Longlegs« spielt in den neunziger Jahren, in denen »Das Schweigen der Lämmer« in die Kinos kam, und die Ausstattung des Films ist durchaus zeitgetreu. Wie Agentin Starling muss sich Agentin Harker im männlich dominierten FBI beweisen.

Unaufgelöster innerer Konflikt 

Und wie Starling muss sich Harker ihrem Kindheitstrauma stellen, das anhand des ob­skuren Sozialverhaltens und der seltsamen Beziehung der Figur zu ihrer Mutter (Alicia Witt) von Beginn an angedeutet wird. Doch während die von Jodie Foster gespielte Beamtin sich in einer Art therapeutischer Sitzung mit dem kannibalischen Psychiater Lecter ihren unaufgelösten inneren Konflikt von der Seele redet, helfen in »Longlegs« keine Worte und auch keine Gebete mehr, an die Mutter Harker ihre ermittelnde Tochter wiederholt erinnert. Waffengewalt setzt dem inneren und äußeren Schrecken ein Ende.

Der entscheidende Unterschied zwischen »Das Schweigen der Lämmer« und »Longlegs« liegt jedoch in der Ausgestaltung der Figur des Se­rienkillers. Buffalo Bill, zutiefst verunsichert in seiner geschlechtlichen Zugehörigkeit und seinem sexuellen Begehren, mordet auf der Suche nach seiner Persönlichkeit – dass es sich hierbei um eine Pathologisierung gesellschaftlicher Minderheiten handelt, wurde von Homose­xuellen- und Trans-Gruppen kritisiert, vom Autor der Romanvorlage, Thomas Harris, jedoch bestritten.

Longlegs hingegen personifiziert das unerklärliche Böse, das die vermeintliche Idylle der US-amerikanischen Kernfamilie heimsucht. Damit ähnelt er eher un- beziehungsweise übermenschlichen Horrorfi­guren wie Michael Myers und Freddy Krueger. Menschlich (und gut) ist ­lediglich sein Musikgeschmack: ­Longlegs steht auf T. Rex und Lou Reed.

Rot glühende Augen unter schwarzen Schleiern

Dass man es also weitaus mehr mit einem Horrorfilm als einem Polizei­thriller zu tun hat, macht Perkins auch mit anderen Elementen deutlich: Diabolische Schemen tauchen im Hintergrund auf und verschwinden wieder, rot glühende Augen starren unter schwarzen Schleiern hervor, blutige Visionen blitzen in der Handlung auf.

Zudem spricht Longlegs im Zusammenhang mit seinen Taten von seinem »Freund im Keller«. Bei diesem handelt es sich – die Indizien verdichten sich auch dank der Erwähnung einschlägiger Stellen aus der Offenbarung des Johannes (»Ich sah aus dem Meer ein Tier aufsteigen, das zehn Hörner und sieben Köpfe hatte und auf seinen Hörnern zehn Diademe«) – wohl um den Leibhaftigen selbst. Die okkult-satanistischen Elemente spiegeln dabei den christlich-religiösen Wahnsinn, der in den Gebetsaufforderungen der Mutter der weiblichen Hauptfigur und in den Fernsehpredigern aufscheint, deren Sendungen in Wohnzimmern verfolgt werden.

Perkins, der bereits für seinen Film »The Blackcoat’s Daughter« von 2015 gute Kritiken erhielt, überzeugt mit »Longlegs« auch als Horror-Stilist. Die Tongestaltung zehrt mal unterschwellig, mal laut an den Nerven. Die Rückblenden im kleinen 4:3-Bildformat erzeugen eine angestaubt-drückende Atmosphäre. Der magische Realismus der großformatig gedrehten Haupthandlung entsteht vorwiegend durch die exzellente Kameraarbeit von Andrés Arochi. Die Kamera lauert, schleicht sich an, verfolgt oder verharrt auch zwischendurch zu lange auf Details, so dass sich der Eindruck einstellt, die Bilder enthielten mehr, als sie zeigen.

Maika Monroe  entwickelt in der Rolle der verhaltensgestörten Polizistin ihre eigene unheimliche Ausstrahlung.

Dieses »Mehr« ist der eigentliche Schrecken des Films: Zu sehen gibt es schreckliche Häuser, schreckliche Wälder, schreckliche Einöde, schreckliche Väter, schreckliche Mütter, schreckliche Kindergeburtstage, schreckliche Puppen und nicht zuletzt einen schrecklichen Serienmörder.

Erst nach etwa 45 Minuten zeigt Perkins den zuvor nur in Detailansicht präsentierten Longlegs komplett. Nicolas Cage spielt die Figur in dem für ihn typischen Overacting, grotesk überzeichnet und mit einer enervierenden Singsangstimme. Bestens zur Seite steht ihm Maika Monroe, die in der Rolle der verhaltensgestörten Polizistin ihre eigene unheimliche Ausstrahlung entwickelt.

Der Schrecken steckt darüber hinaus in den familiären Beziehungen, die der Film entfaltet. Das wird schon sehr früh deutlich: In einer Szene unterhält sich Harker mit ihrem Vorgesetzten, Agent Carter (Blair Underwood), einem Familienvater, über die Taten der Manson Family, deren Mitglieder auf Geheiß ihres Anführers Charles Manson Ende der Sechziger eine Reihe brutaler Morde verübten. Sie stellt dabei fest: »Manson hatte Komplizen. Er hatte eine Familie.« Familie als Komplizenschaft – diese Feststellung erweist sich im Verlauf der Handlung als überaus bedeutsam.

Eine besondere familiäre Beziehung kann übrigens auch Regisseur Osgood Perkins vorweisen: Er ist der Sohn von Anthony Perkins, der in »Psycho« aus dem Jahr 1960 die Figur des Norman Bates spielte – einen der bekanntesten Serienmörder der Filmgeschichte.

Longlegs (USA 2024). Buch und Regie: ­Osgood Perkins. Darsteller: Maika Monroe, Nicolas Cage, Blair Underwood, Alicia Witt. Filmstart: 8. August