Für eine lernende Linke

Homestory #27/24

Homestory Von Jungle World

Mitchell Cohen, der langjährige Mitherausgeber des linken US-Magazins »Dissent«, hat die »Jungle World« und das »Bajszel« besucht. Er plädierte für eine Linke, die sich kritisch mit ihrer eigenen Geschichte auseinandersetzt und ideologische Dogmen hinterfragt.

Die Gruppe von Intellektuellen, darunter Personen wie der demokratische Sozialist Irving Howe oder der Schriftsteller Norman Mailer, die 1954 in New York City das Magazin Dissent gründeten, teilte den Grundsatz, dass ihre Mitglieder »gegen beide Joes waren: gegen Joseph Stalin und gegen Joseph McCarthy«.

So erzählte es der langjährige Mitherausgeber der Zeitschrift, Mitchell Cohen, der kürzlich die Redaktion Ihrer Lieblingszeitung besuchte. In dem antikommunistischen gesellschaftlichen Klima der fünfziger Jahre trat Dissent für einen demokratischen Sozialismus ein, der das sowjetische Modell grundlegend kritisierte, das jahrzehntelang nicht nur von der Kommunistischen Partei in den USA, sondern auch zahlreichen intellektuellen Unterstützern verteidigt worden war.

Diese Skepsis gegenüber ideologischer Verwirrungen und Illusionen der Linken prägte die Zeitschrift jahrzehntelang. In den sechziger Jahren geriet Dissent in Konflikt mit den jungen Militanten der New Left. Die Zeitschrift kritisierte unter anderem deren unkritische Unterstützung des Antiimperialismus in der sogenannten Dritten Welt.

Wie früher manche Linke wider besseres Wissen Stalin verteidigten und dessen Verbrechen leugneten, tun sie es heute mit der Hamas.

In den späten sechziger Jahren warf ein junger Mann auf einem Universitätscampus Irving Howe vor, dieser habe die Revolution verraten und sich mit dem Status quo abgefunden. »Weißt du, was aus dir mal werden wird? Ein Zahnarzt«, erwiderte Howe. Die Weathermen planten sogar, mit einer Bombe das New Yorker Büro von Dissent zu verwüsten, was nur daran scheiterte, dass das Magazin damals gar nicht über ein dauerhaftes Büro verfügte.

Unreflektierter Militanzfetisch, die Projektion von revolutionären Vorstellungen sogar auf Islamisten – viele derartiger Phänomene aus Geschichte der Linken des 20. Jahrhunderts scheinen heutzutage nicht nur von historischem Interesse. Oder, wie Mitchell Cohen es ausdrückte, »a lot of the old junk has come back«: Wie früher manche Linke wider besseres Wissen Stalin verteidigten und dessen Verbrechen leugneten, tun sie es heute mit der Hamas.

Auch mit dem Antisemitismus sei es wie mit einer Flasche Wodka, sagte Cohen am Montag in der Berliner Programmschänke »Bajszel«. Man könne 20 Jahre trocken gewesen sein, aber dann komme eine Krise und man könne nicht widerstehen, einen Schluck zu nehmen. Er plädiert deshalb für eine Linke, die sich kritisch mit ihrer eigenen Geschichte auseinandersetzt und ideologische Dogmen hinterfragt – »a left that learns«.

Mitchell Cohen vor einer Bücherwand

Mitchell Cohen ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft am Baruch College, einem der Standorte der City University of New York (CUNY). Von 1991 bis 2009 war er Mitherausgeber des US-Magazins »Dissent«.

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privat