Abel Quentins neuer Roman seziert die Mechanismen des Shitstorms

Fegefeuer der Wokeness

Buchkritik Von Heike Karen Runge

Der 1985 geborene französische Strafverteidiger Abel Quentin erzählt in seinem brillant-zynischen Gesellschaftsroman »Der Seher von Étampes« von den Fallstricken der Identitätsdebatten, Social-Media-Diskurse und Generationenkonflikte.

Die Laufbahn des Akademikers ist vollgestellt mit Fettnäpfchen. Jean Roscoff tritt mit Wucht in eines hinein. Dabei hat der linke Historiker seine bescheidene Karriere als Hochschullehrer an der Pariser Sciences Po mit Schwerpunkt auf der Geschichte des Kalten Kriegs eigentlich schon hinter sich. Sein Habilitationsvorhaben hat er niemals realisiert. Zu viel Ablenkung, eine Menge politischer Arbeit, zu wenig Ehrgeiz.

Sartres Konzept der Negritude, die Affäre um die »Atomspione« Ethel und Julius Rosenberg, die Kämpfe von SOS Racisme und der Poststrukturalismus: Wie sich das Verhängnis über dem Boomer-Autor zusammenbraut und er sich am Ende des Zuspruchs der Rechtsextremen erwehren muss, davon erzählt der Roman. 

Aber Material zu einem afroamerikanischen Lyriker und Jazztrompeter, einem unzuverlässigen Kommunisten aus dem Umkreis von Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und Richard Wright, das Roscoff gesammelt hat, liegt noch immer in der Schublade. Jetzt, im Ruhestand, will er es zu einem Buch ausarbeiten. Es winkt der späte Ruhm.

Roscoff ordnet seine Aufzeichnungen und schwelgt in der Zeit, als er als langmähniger Post-Punk-Hedonist auf den Spuren der Großintellektuellen durch Südfrankreich tourte. Aber die Koordinaten des Antirassismus haben sich verschoben.

Abel Quentin arbeitet als Strafverteidiger in Paris. »Der Seher von Étampes« ist sein zweiter Roman

Abel Quentin arbeitet als Strafverteidiger in Paris. »Der Seher von Étampes« ist sein zweiter Roman

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Auch wenn seine Hommage an den zu Unrecht vergessenen Dichter in einem Kleinverlag erscheint, ist die Resonanz auf das Buch gewaltig: Ausgelöst durch einen woken Blogbeitrag, sorgt die Biographie für einen riesigen Literaturskandal, in dessen Zentrum der Vorwurf der kulturellen Aneignung steht. Roscoffs Bemerkung, der Künstler sei »nebenbei schwarz« gewesen, lässt die Debatte eskalieren.

Sartres Konzept der Negritude, die Affäre um die »Atomspione« Ethel und Julius Rosenberg, die Kämpfe von SOS Racisme und der Poststrukturalismus: Wie sich das Verhängnis über dem Boomer-Autor zusammenbraut, er sich in den Fallstricken von Identitätsdebatten, Social-Media-Diskursen und Generationenkonflikten verfängt und sich am Ende des Zuspruchs der Rechtsextremen erwehren muss, davon erzählt der 1985 geborene französische Strafverteidiger Abel Quentin in seinem brillant-zynischen Gesellschaftsroman »Der Seher von Étampes«.


Buchcover

Abel Quentin: Der Seher von Étampes. Aus dem Französischen von Laura Strack. Matthes & Seitz, Berlin 2024, 350 Seiten, 25 Euro