https://shop.jungle.world/artikel/2024/16/karl-schloegel-american-matrix-usa-weltmacht-im-museum
Das amerikanische Jahrhundert ist vorbei. Was aber waren und sind die USA? Der Osteuropahistoriker Karl Schlögel besichtigt die Vereinigten Staaten – mit einem speziellen Blick für die Beherrschung von Raum und Zeit.
Gut 100 Jahre haben die Vereinigten Staaten von Amerika die Weltpolitik mehr oder weniger dominiert. Mit dem siegreichen Krieg gegen Spanien 1898 begann der Aufstieg zur Weltmacht; mit dem 11. September 2001 der Abstiegskampf. Noch ist der Einfluss der USA groß, doch das amerikanische Zeitalter geht langsam, aber sicher zu Ende.
Was bleibt, sind Bilder einer Großmacht, die sich mit ihrer durchaus beeindruckenden soft power in den Köpfen der Welt festgesetzt haben. Noch heute stehen die USA und ihre Konsumprodukte für ein Gefühl von Freiheit und ein Besuch Miamis gilt den oberen Mittelschichten in vielen Schwellenländern als erstrebenswert.
Anders als die Imperien, die von kleinen europäischen Staaten wie Portugal, Spanien oder Großbritannien ausgingen, beruht die Macht der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion auf der Bezwingung einer gigantischen Landfläche, nicht der Weltmeere.
Hollywood produziert Filme über die glorreiche Geschichte des Landes und US-Sitcoms aus den neunziger Jahren erfreuen sich größter Beliebtheit – in den USA selbst hat ein großer Teil der Bevölkerung Sehnsucht nach einer Selbstmusealisierung durch Rückzug auf das vermeintlich Eigene. An diesem Projekt der Historisierung des, wenn man so will, amerikanischen Jahrhunderts beteiligt sich – vielleicht unabsichtlich – auch ein Buch des Osteuropahistorikers Karl Schlögel. Er hat die USA im Laufe seines Lebens mehrfach besucht, »intensiv bereist«, wie der Verlag wirbt. Nun legt er mit »American Matrix. Besichtigung einer Epoche« so etwas wie die Essenz dieser langjährigen Beschäftigung vor. In 28 leicht zu lesenden Kapiteln auf gut 800 Seiten legt er zumindest teilweise jene Matrix frei, die das amerikanische Jahrhundert strukturiert.
Ein Imperium erhält seinen Herrschaftsanspruch durch seinen Zugriff auf Raum und Zeit aufrecht. Es wird also zusammengehalten von seiner Infrastruktur – Eisenbahnen, Autobahnen, Flugzeuge, Internet; aber natürlich auch von einer Vorstellung seiner selbst, seiner Vergangenheit und Zukunft. Die amerikanische Epoche fußt auf einer bestimmten Erfahrung von Raum und Zeit, auf einer Matrix, die zur Triebkraft der Welteroberung wurde. Deren innenpolitische Wurzeln reichen bis ins 18. Jahrhundert zurück, jene Zeit, in der sich ein paar abtrünnige Kolonien als Siedlergesellschaft neu erfanden und selbst zur Kolonisatorin wurden.
Schlögels Zugang ist nicht zuletzt deswegen interessant, weil er sich auch gut mit der Sowjetunion auskennt, wissenschaftlich und persönlich. So kann er auf Parallelen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den beiden einstigen Antipoden hinweisen, die ein Kenner allein der USA übersehen würde.
Zentral ist dabei die Erfahrung des Raums. Sowohl die USA als auch die Sowjetunion sind, beziehungsweise waren, riesige Flächenreiche. Anders als die Imperien der Frühen Neuzeit, die von kleinen europäischen Staaten wie Portugal, Spanien oder Großbritannien ausgingen, beruht die Macht der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion auf der Bezwingung einer gigantischen Landfläche, nicht der Weltmeere.
Dieser weite Raum kehrt im Buch immer wieder, von den ersten Kapiteln über die Reisen Tocquevilles und Friedrich Ratzels durch die USA über den Bau von Eisenbahnen und Highways bis zur Errichtung des Hoover Dam oder schwindelerregend hoher Wolkenkratzer: Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist vor allem eines der technologischen Bezwingung eines zunächst schier endlos scheinenden Raums.
Vom Aufbau her lädt das Buch tatsächlich zu einer »Besichtigung« ein. Zwar ist es einigermaßen chronologisch aufgebaut, doch prinzipiell lassen sich die Kapitel einzeln lesen, wodurch man durch das Buch ein wenig wie durch ein Museum spazieren kann. Jedes Kapitel verfügt außerdem über seine eigene Literaturliste, was den Eindruck verstärkt, keine Monographie, sondern eine Aufsatzsammlung vor sich zu haben. Allerdings entstehen dadurch auch so manche Redundanzen, die mitunter ermüden können – was sicher auch daran liegt, dass der Raum eben mehrfach erschlossen wurde: mit dem Planwagen, der Eisenbahn, dem Auto und dem Flugzeug.
Schlögel verbindet die technologische Perspektive mit sozialen, intellektuellen und kulturellen Entwicklungen, die in Wechselwirkung die »American Matrix« hervorbringen und verändern. Dabei legt er großen Wert auf zeitgenössische Quellen, aus denen er teils sehr ausführlich zitiert. Einige Inkongruenzen sind dabei unvermeidlich. Dass es beispielsweise Kapitel über US-amerikanische Höflichkeit gibt, aber keines über den Siegeszug des Fast Food, dürfte nur durch die persönliche Präferenz des Autors erklärbar sein.
Doch wer die Vereinigten Staaten vor allem als Abziehbild aus Funk und Fernsehen kennt, lernt hier viel dazu. Nicht nur, dass vieles genau so ist, wie man es sich vorstellt – Städte wie Los Angeles sind zu Fuß tatsächlich nicht zu erschließen –, sondern auch, warum vieles genau so auch Sinn ergibt – wie die US-amerikanischen Universitäten mit ihrem Campusleben oder die riesigen Shopping Malls an den Autobahnausfahrten. Meist steht dahinter elitäre oder arbeiterfeindliche Politik, aber eben auch ein Freiheitsversprechen, auf das man politisch pochen kann.
Die »American Matrix« ist bekanntermaßen auch durch Ausschlüsse bis zur Segregation, durch beinharten Konkurrenzkampf und ethnisch-politische Gewalt bis zum Völkermord zustande gekommen. Dass die Vereinigten Staaten nicht einfach eine Teeparty europäischer Einwanderer war, sickert in den vergangenen Jahren auch in den USA selbst immer mehr ins Bewusstsein. Schlögel gibt sich Mühe, dies auch mitzudenken – etwa wenn er auf den Spuren W. E. B. Dubois’ »entlang der color-line« wandelt oder im Kapitel »Archipel Amerika« über die Ausrottung der Indigenen schreibt. Hier macht sich sein Zugang über die Erfahrung von Raum und Zeit besonders bezahlt.
Vom »Trail of Tears«, der Zwangsumsiedlung der indianischen Stämme des Südostens in ein Gebiet jenseits des Mississippi, bis zum »war of extermination« im 19. Jahrhundert: Schlögel benennt deutlich und mittels schwer erträglicher Zeugnisse die unsägliche Gewalt, auf der die USA gegründet wurden. Was blieb, sind Toponyme wie Oklahoma und Manhattan, die aus Sprachen der Ureinwohner stammen.
Einerseits gibt die Behandlung der Gewaltgeschichte innerhalb der Vereinigten Staaten in eigenen Kapiteln dieser mehr Gewicht. Andererseits entsteht dadurch aber auch der Eindruck, der brutale Umgang mit den Ureinwohnern geselle sich zu der heroischen Erzählung der Siedler, Landvermesser und Industriellen einfach dazu – als wäre sie nicht die zwangsläufige Konsequenz und notwendige Bedingung des amerikanischen Aufstiegs, sondern ein simpler Kollateralschaden.
Man blickte in der Sowjetunion anerkennend auf die USA. Der hohe Lebensstandard mit Kühlschrank und Auto, der sich dort durchsetzte, galt unter Stalin durchaus als Ziel für die eigene Politik.
So oder so: Schlögels Blick auf die USA bleibt ein anerkennender. Seine Bewunderung für die Leistungen der Vereinigten Staaten kann er nicht verhehlen, auch die Vergleiche mit der Sowjetunion heben häufig die vermeintliche Überlegenheit der liberalen Demokratie der USA hervor – etwa wenn er den Bau des Hoover Dam mit dem des Dnjeproges unter Stalin vergleicht. Beide waren »Arbeitsbeschaffungsprogramme«, doch während die Vertreibung der Bauern in der Sowjetunion als staatlicher Akt daherkommt, wirkt die Große Depression bei Schlögel eher wie ein unvermeidbares, nicht menschengemachtes Ereignis.
Interessanter ist in diesem Zusammenhang ohnehin, wie eng die technologischer Zusammenarbeit zwischen beiden Staaten in den dreißiger Jahren noch war. Sowjetische Ingenieure besuchten die Baustelle im US-amerikanischen Südwesten, US-amerikanische Ingenieure waren am Bau des Dnjeproges beteiligt – und manche begegneten sich später bei Assuan oder am Jangtse wieder. Man lernte voneinander und inspirierte sich, vor allem jedoch blickte man in der Sowjetunion anerkennend auf die USA. Der hohe Lebensstandard mit Kühlschrank und Auto, der sich dort durchsetzte, galt unter Stalin durchaus als Ziel für die eigene Politik.
Was bleibt, ist der Eindruck eines Amerika, das vielmehr von Heterogenität und Ungleichzeitigkeit geprägt ist, als die Herolde der soft power zu vermitteln versuchen. So kann man in Detroit bis heute die Wandgemälde »Industry Murals« des mexikanischen Kommunisten Diego Rivera besichtigen, die dort im Institute of Arts den Prozess der Automobilproduktion zeigen und trotz konservativer Kritik entstanden, weil Edsel B. Ford, der Sohn Henry Fords, den Künstler protegierte. Dass Rivera jedoch in der Lobby des Rockefeller Center Lenin in einem Fresko versteckte, ging dann doch zu weit – das Gemälde wurde 1934 zerstört.
Karl Schlögel: American Matrix. Besichtigung einer Epoche. Hanser-Verlag, München 2023, 832 Seiten, 45 Euro