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Der marxistische Soziologe Boris Kagarlizkij ist wegen des Vorwurfs der »Rechtfertigung von Terrorismus« festgenommen worden. Seit der russischen Invasion im vergangenen Jahr war er einer der prominentesten linken Kriegsgegner in Russland.
»Die Russländische Föderation befindet sich im Zustand eines bewaffneten Konflikts mit einem Nachbarn. Ich denke, es muss eine bestimmte Haltung zu denjenigen Menschen geben, die uns Schaden im Inneren des Landes zufügen.« Mit diesen vielsagenden Worten kommentierte der russische Präsident Wladimir Putin bei einer Pressekonferenz während des Gipfeltreffens mit afrikanischen Staatsvertretern in Moskau die Frage eines Journalisten der Zeitung Kommersant nach den Gründen für die Verhaftung des linken Soziologen Boris Kagarlizkij.
Der 64järige Dozent an der Moskauer Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaft wurde am 25. Juli verhaftet. Der Öffentlichkeit wurde das erst bekannt, als auch bei seinem Mitstreiter, dem Psychologen Aleksandr Artschagow, eine Hausdurchsuchung stattfand. Die Polizei teilte Artschagow mit, dass er als Zeuge in einem Verfahren gegen Kagarlizkij wegen des Vorwurfs der »öffentlichen Rechtfertigung von Terrorismus« vernommen werde.
Am nächsten Tag durchsuchten die Behörden die Wohnung des Administrators der von Kagarlizkij gegründeten Online-Plattform Rabkor, Artjom Jerofonow, in Jekaterinburg und die der ehemaligen Vorsitzenden der Partei Gerechtes Russland in der Oblast Pensa, Anna Otschkina. Diese hatte die Partei im März 2022 aus Protest gegen deren nationalistische Haltung und Unterstützung der Invasion der Ukraine verlassen und ist häufiger Gast auf dem Youtube-Kanal von Rabkor.
Über den Verbleib Kagarlizkijs herrschte Ungewissheit, bis sein Anwalt Sergej Jerochow mitteilte, sein Mandant sei in Syktywkar, der über 1.000 Kilometer von Moskau entfernten Hauptstadt der Republik Komi, inhaftiert. Die Staatsanwaltschaft wirft Kagarlizkij Rechtfertigung von Terrorismus vor, weil er im Oktober vergangenen Jahres auf Telegram über den damaligen Angriff auf die Kertsch-Brücke, die die Krim mit der russischen Region Krasnodar verbindet, geschrieben hatte: »Vom militärischen Standpunkt ist der Sinn von dem, was geschah, einigermaßen klar. Es wird Probleme mit der Versorgung geben.«
2014 sah Kagarlizkij im Maidan-Umsturz in der Ukraine den Beginn einer neoliberalen Wende nach rechts und unterstützte die prorussischen Unruhen im Donbass.
Das 2008 gegründete sozialistische Medium Rabkor, das auf Youtube fast 100.000 Abonnenten hat, rief zu Solidarität mit Kagarlizkij auf. Zuschauer des Streams von Rabkor drückten ihre Unterstützung aus und fragten beispielsweise, wer sich um Kagarlizkijs Kater Stepan, das Maskottchen des Kanals, kümmern werde. Russische Linke und Liberale, Fachkollegen, aber auch westeuropäische Politiker wie Jeremy Corbyn und Jean-Luc Mélenchon forderten Kagarlizkijs Freilassung. Dagegen hüllt sich die größte sich links nennende Partei Russlands, die kommunistische KPRF, in demonstratives Schweigen.
Boris Kagarlizkij ist nicht das erste Mal Repressalien ausgesetzt. In der Sowjetunion war er ab 1977 in einem Zirkel »Junger Sozialisten« aktiv, der mehrere linke Samisdat-Zeitschriften veröffentlichte. 1980 wurde der Student Kagarlizkij von der Russischen Akademie für Theaterkunst verwiesen, im April 1982 verhaftete der KGB ihn und seine Mitstreiter. Nachdem sich die Jungen Sozialisten geständig gezeigt hatten, wurden sie begnadigt. In der Perestroika-Zeit gründete Kagarlizkij die linke oppositionelle Föderation der sozialistischen gesellschaftlichen Klubs (FSOK) und war Anführer des sozialistischen Flügels der Moskauer Volksfront, eines politischen Zusammenschlusses für demokratische Reformen. 1990 wurde er in den Moskauer Stadtsowjet gewählt.
Kagarlizkijs damalige Parteigründungsprojekte – Sozialistische Partei (1990–1992) und Partei der Arbeit (1992–1994) – blieben erfolglos, die demokratische Linke wurde zerrieben zwischen dem liberalen Lager, das Präsident Boris Jelzin stützte, und der linksnationalistischen Opposition, die gegen Jelzin aufbegehrte. Im Oktober 1993 protestierte Kagarlizkij gegen Jelzins Auflösung des Obersten Sowjets und des Kongresses der Volksdeputierten per Dekret, und wurde erneut kurzzeitig inhaftiert. In den folgenden Jahren beriet er Gewerkschaften, gründete mehrere linke Medien und suchte Kontakte zu sozialdemokratischen und linkssozialistischen Personen in der KPRF und der Partei Gerechtes Russland. Als langjähriger Direktor des Anfang der nuller Jahre gegründeten Instituts für Globalisierung und soziale Bewegungen baute er Kontakte zu linken Intellektuellen im Ausland auf.
Das russische Justizministerium nahm Kagarlizkij im Mai 2022 ins Register der »ausländischen Agenten« auf.
Kagarlizkij gilt als Vertreter einer von der Weltsystem-Theorie ausgehenden Globalisierungskritik. Nach dem russischen Einmarsch in Georgien 2008 wies er auf die positiven Folgen des offen zutage getretenen Konflikts zwischen Russland und den USA hin, denn »wir waren immer gegen die Nato, gegen die Orientierung an den Vereinigten Staaten« und gegen Russlands Beitritt zur Welthandelsorganisation.
2014 sah Kagarlizkij im Maidan-Umsturz in der Ukraine den Beginn einer neoliberalen Wende nach rechts in der dortigen Politik und unterstützte die russische Annexion der Krim und die prorussischen Unruhen im Donbass. Kritiker warfen ihm vor, dass er die russische militärische Aggression gegen die Ukraine rechtfertige, indem er den Mythos verbreitete, es habe einen breiten Volksaufstand gegen die Kiewer Regierung gegeben, dem er ein progressives Potential zusprach.
Die Invasion der Ukraine im vergangenen Jahr verurteilte Kagarlizkij dagegen vom ersten Tag an. Rabkor wurde eine Plattform für Diskussionen, in denen der russische Krieg abgelehnt wurde. Dabei vermied Kagarlizkij beispielsweise das Wort »Krieg« im Bezug auf die Ukraine in den Mund zu nehmen und sprach ironisch vom »K-Wort«. Das Justizministerium nahm ihn im Mai 2022 ins Register der »ausländischen Agenten« auf. In einem im Mai auf Englisch übersetzten Text schrieb er, Forderungen aus dem Ausland, Verständnis für Putin zu entwickeln oder ihm entgegenzukommen, »werden in Russland als Komplizenschaft mit Kriminellen verstanden, die unser Land unterdrücken und ruinieren«. »Versöhnliche und ambivalente Äußerungen« in der »westlichen progressiven Öffentlichkeit« würden die russischen Machthaber bei der Unterdrückung jeglicher Opposition bestärken.