Der Briefwechsel von Günther Anders

Verbrannte Finger

Vor den sprichwörtlichen »hot potatoes« hatte Günther Anders keine Scheu. Davon zeugt auch der kürzlich erschienene und bisher unveröffentlichte Briefwechsel des Philosophen – vor allem die Briefe, die er und Theodor W. Adorno sich schickten.

Bücher, so schrieb der Schriftsteller und Philosoph Günther Anders einmal, seien wie Briefe zu behandeln, nämlich an Adressat:innen zu richten. Das derzeit wachsende Interesse an seinen Arbeiten mag unter anderem mit seinem vorausschauenden Verständnis von Technik zu tun haben. Anders hatte im US-amerikanischen Exil begonnen, das sich verändernde Verhältnis zwischen Mensch und Technik zu analysieren, und sah ein »prometheisches Gefälle«, eine Diskrepanz zwischen Herstellen und Vorstellen, am Werk. Nach seiner Rückkehr nach Europa Anfang der fünfziger Jahre erschienen diese Überlegungen im ersten Band seines Hauptwerks »Die Antiquiertheit des Menschen«, der den Untertitel »Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution« trägt. Sie kulminierten in einer der ersten philosophischen Analysen der Atombombe, die Anders auch zum Mentor der sich ab 1958 formierenden Anti­atombewegung machte.

Die Kommunikationsverhältnisse im digitalen Kapitalismus würden ihm wohl ebenfalls als eine seiner »Übertreibungen zur Wahrheit« erscheinen, einer Methode, mit der er die destruktiven und verdinglichenden Tendenzen seiner Gegenwart zu fassen versuchte. Doch auch damals, in postalischer Form, schenkte man sich nichts, wie die jüngst von Reinhard Ellensohn und Kerstin Putz herausgegebene Edition von Anders’ Briefen mit dem Titel »Gut, dass wir einmal die hot potatoes ausgraben« zeigt. Insbesondere der Austausch mit Theodor W. Adorno führt vor Augen, wie erbittert die Frage nach den Ad­res­sat:innen und der richtigen Form der Ansprache in der postnazistischen Bundesrepublik verhandelt wurde. Diese Korrespondenz ist die ausführlichste und dichteste in der Edition, die außerdem Anders’ Briefwechsel mit Max Horkheimer, Herbert Marcuse, Ernst und Karola Bloch sowie Helmuth Plessner enthält. Es handelt sich dabei um größtenteils unveröffentlichtes Material aus den jeweiligen Nachlässen; Anders’ Nachlass wird im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbib­liothek in Wien aufbewahrt.

Anders nahm Adorno übel, sich zur atomaren Bedrohung nie öffentlich geäußert und sich in der Bundesrepublik häuslich eingerichtet zu haben.

Anders hat im Gegensatz zu seinen Briefpartnern in der akademischen Welt der frühen Bundesrepublik keinen Fuß gefasst. Er erscheint in den Briefen wie ein gelegenheitsphilosophischer Handelsreisender, ein »commis voyageur«, wie er selbst schrieb, der als Vortragender gefragt war, sich zuweilen aber auch aufdrängte. Offensichtlich musste Anders von seinen Vortragshonoraren und Buchtantiemen seinen Lebensunterhalt bestreiten. Als sich der Philosoph Helmuth Plessner bei einer Stellenbesetzung für ihn einsetzen wollte, gab Anders zu bedenken: »Dass ich, weniger aus eigener Schuld, als durch die Weltgeschichte, in einen Stil philosophischen Schreibens hineingekommen bin, der oft un­akademisch ist, wissen Sie ja (…) meine Verwendung aller literarischen Formen hat gleichfalls Präzisionsabsicht: nämlich, die jeweils dem Thema oder Hörerkreis angemessene Form zu finden.« Seine Kisten voller unfertiger Manuskripte aus dem Exil taugten nicht für einen schnittigen akademischen Lebenslauf. Er hatte in den vierziger Jahren an so unterschiedlichen Themen wie einer Kritik der Kafka-Rezeption, Texten über akustische Stereoskopie oder dreidimensionales Sehen und zwei langen ideologiekritischen Aufsätzen über Heideggers »Pseudo-Konkretheit« und dessen Nihilismus gearbeitet.

Mit dem sich in Frankfurt am Main wieder etablierenden Institut für ­Sozialforschung war das Verhältnis trotz großer thematischer Nähe seit den gemeinsamen Jahren im Exil schwierig geblieben. In New York hatte das Institut viele Emigranten, so auch Anders, mit kleineren Arbeitsaufträgen versorgt. Dies war nur einer von vielen odd jobs gewesen, wie auch seine Tätigkeit als Reinigungskraft in einem Kostümfundus in Hollywood. Der Institutsleiter Max Horkheimer, so ist in einem der frühen Briefe zu lesen, war ihm mit einem Einladungsschreiben bei der Beschaffung der Papiere für die Emigration von Paris 1936 behilflich gewesen. Nach seiner Ankunft in New York jedoch begegnete er ihm oftmals mit Herablassung. Anders wurde geradezu zur Symbolfigur für das akademische Prekariat im Exil. Friedrich Pollock schrieb Horkheimer 1941, Herbert Marcuse habe »entsetzliche Angst, nach fünf Jahren als zweiter Günther Stern herumzulaufen«. Stern war Anders’ bürgerlicher Name. Es sind nicht selten die von den Herausgeber:innen ausgewählten ergänzenden Materialien, die die in den Briefen zum Ausdruck kommenden Spannungen besser verstehen lassen, so auch die mit dem Institut.

Die Briefe aus den fünfziger Jahren lassen nachvollziehen, dass Anders die Forschungen des Instituts intensiv verfolgte und bisweilen ebenso ungeschickte wie sympathische Networking-Versuche unternahm. Der Ton Horkheimers blieb stets distanziert, bei einem Besuch in Frankfurt fühlte sich Anders abgewimmelt. Zum endgültigen Bruch kam es, nachdem er wegen inhaltlicher, vor allem methodischer Bedenken die Bearbeitung der von Adorno, Else Frenkel-Brunswik und anderen in den Vereinigten Staaten veröffentlichten Studie »The Authoritarian Personality«, von ihm liebevoll »Familien-Wälzer« genannt, für eine Veröffentlichung in deutscher Sprache abgelehnt hatte. Im März 1953 sandte er eine mehrere Seiten lange Begründung an Pollock: Viel stärker müsse man für eine deutsche Kurzfassung den nachfaschistischen Leser im Blick haben, ihn geradezu pädagogisch anschreiben. Die Quantifizierungsmethoden, sprich das Skalensystem, empfand er als »ungeheuren Umweg«.

Doch bereits Anders’ erster Brief nach seiner Ankunft in Wien 1951 hatte für Unmut gesorgt und den schrillen Ton des nachfolgenden Briefwechsels mit Adorno provoziert: »Vor ein paar Tagen las ich Ihren Benjamin-Aufsatz; und ich bin froh, dass Sie durch dieses Portrait das ­Andenken an ihn, mindestens (…) seine Züge aufbewahrt haben.« Adorno beschwerte sich, der »gönnerhafte Ton« setze »doch wohl ein falsches Verhältnis« voraus. Horkheimer quittierte diesem postalisch, der Brief sei »anbiedernd« sowie »unverschämt« – und Anders »ein Dreckskerl«.

Walter Benjamin ist bei den Erörterungen ihrer philosophischen Methode stets präsent. »Immer wieder«, so schreibt Anders an Adorno, »stehe ich mit Staunen vor Ihren Analysen, in denen das Philosophische bis in die letzten handwerklichen Schnörkel hineinreicht und sich ­gerade im Konkretesten bewährt.« Doch obwohl Anders ebenso von den »opaken und beunruhigenden« Dingen seiner Epoche aus philosophierte, rückte Adorno nicht von dem Vorwurf ab, Anders habe Benjamin einen »Kaffeehausliteraten« genannt, was dieser vehement bestritt.

Als Affront empfand es Adorno zudem, dass Anders bei einem Treffen in Wien Arnold Gehlen die Begrüßung verweigert hatte. Der Entschluss zur Remigration heiße zwangsläufig auch, mit Nationalsozialisten umgehen zu müssen: »Hat man sich einmal, wie Sie und ich, entschlossen, zurückzukommen, so scheint es mir nicht möglich, die Haltung der privaten Intransigenz un­gemindert einzunehmen. (…) Ich geniere mich nicht, Ihnen zu sagen, dass ich mit jemandem wie Gehlen, bei dem alles aus einer radikalen Verdüsterung entspringt, weit besser reden kann als mit zahllosen Menschen des mittleren Fortschritts.« Anders kontert: »Seit wann ist Verdüsterung ein Verdienst, seit wann bringt Denkkraft und Geschmack Schuld zum Verschwinden?«

Doch die politischen potatoes waren auch in anderen Augenblicken besonders heiß. Anders nahm Adorno übel, sich zur atomaren Bedrohung nie öffentlich geäußert und sich in der Bundesrepublik häuslich eingerichtet zu haben. Diese »Aktionsaskese«, so elaboriert er in einem seitenlangen Brief, führe »leicht in die Versuchung, sich an seinem Publikum zu rächen«, was sich in Adornos Stil niederschlage. Er missgönne dem Leser das »Atemholen«, dränge ihn weiter, »obwohl er bei der (sachlich legitimen) Schwierigkeit Ihrer Gedankengänge eigentlich im Schneckentempo kriechen müsste«, ziehe ihn in »Korridore hinein, die ihm, da er über Ihren Durchblick nicht verfügt, labyrinthisch erscheinen müssen«. Adorno, so resümiert Anders, wolle seine Leser dafür strafen, dass diese ihm »stets unterlegen, also grundsätzlich die falschen Leser seien«.

Adorno ließ die Vorwürfe an sich abprallen. Über die Atombombe zu schreiben, habe er immer vermieden, »vielleicht wegen der Disproportion zwischen der geballten Faust ­eines Intellektuellen und dieser Einrichtung«. Anders’ Argumentation zeuge von einer »wahren Besessenheit mit dem Gedanken an den Leser. (…) Bei meinem Zeug sind Sie offenbar nicht einmal auf die Idee gekommen, dass es mir nicht um diesen geht, weder darum, ihn zu fangen, noch ihn zu brüskieren (…) Muss ich Sie daran erinnern, dass der Schriftsteller nur soweit dem herrschenden Bann zu widerstehen vermag, wie sein Produkt selbst einen Bann erzeugt? Ich appelliere an den Dialektiker in Ihnen.«

Ein dialektisches Vorgehen war ­jedoch Anders’ Sache nicht. Die endzeitlichen Zustände veranlassten ihn zu einem Schreiben in zuweilen ­beängstigenden Inversionen von Mensch und Ding, in Untergangsfabeln, in nachträglich retuschierten »negativen« Tagebüchern. Der Mensch des mittleren Fortschritts war nicht mehr zu emanzipieren, sondern zu überwältigen.

Günther Anders: Gut, dass wir einmal die hot potatoes ausgraben. Briefwechsel mit Theodor W. Adorno, Ernst Bloch, Max Horkheimer, Herbert Marcuse und Helmuth Plessner. C. H. Beck, München 2022, 458 Seiten, 38 Euro