Maria Stepanova schreibt über die Folgen der gewaltvollen russischen Geschichte

Versiegelt mit Zellophan

Platte Buch Von Heike Karen Runge

<p>Das Mädchen muss sich hinlegen, ausziehen und zeigen. Andauernd ergehen in Maria Stepanovas Langpoem »Mädchen ohne Kleider« Kommandos.</p>

Das Mädchen muss sich hinlegen, ausziehen und zeigen. Andauernd ergehen in Maria Stepanovas Langpoem »Mädchen ohne Kleider« Kommandos. Das Gedicht der russischen Lyrikerin ist ein poetischer, fast altmodisch anmutender Einspruch gegen das Pornogewerbe. Die Mädchen (»immer fünfzehn plus minus«) werden von einer mutmaßlich männlichen Stimme aus dem Off befehligt; abgeschossen wie Wild, werden sie einem Pornoheft (»versiegelt mit züchtigem Zellophan«) abgelegt.

Der Gestus Stepanovas ist beschützend. Die russische Geschichte als Abfolge von Gewaltereignissen, die sich in die Körper und Köpfe eingeschrieben haben, ist ihr eigentliches Thema. »Mädchen ohne Kleider« ist das erste und eindrücklichste von insgesamt drei Gedichten, die der gleichnamige Band versammelt. Das im Suhrkamp-Verlag erschienene Buch enthält die Werke sowohl in deutscher Übersetzung als auch in der 2020 in Russland erschienenen Originalfassung.

Um die Verletzlichkeit des Körpers geht es auch im zweiten Gedicht. »Kleider ohne uns« zeigt das Anthropozän als einen sich totlaufenden Kreislauf der Stoffe und Moden. »Bist du Luft« ist das düsterste und unzugänglichste Gedicht des Zyklus, ein Gang in die Dunkelheit über unwegsames Gelände.

Maria Stepanova, 1972 in Moskau geboren, schreibt Essays, Prosa und Lyrik und ist Chefredakteurin des Online-Kulturmagazins Colta.ru. In ihrem Prosadebüt »Nach dem Gedächtnis« rollt sie die Geschichte des Überlebens ihrer russisch-jüdischen Familie auf. Spätestens seit diesem Buch wird sie international beachtet. Zugleich gilt Stepanova als Vertreterin einer sogenannten Datschen-Emigration. Von der Moskauer Peripherie schaut sie auf »die Dramatik der Lage in Russland«. Die Formulierung stammt aus ihrem klugen Essay zur Mentalitätsgeschichte Russlands, der 2017 in der Neuen Zürcher Zeitung erschien. Bekanntlich ist seitdem nichts besser geworden.

Maria Stepanova: Mädchen ohne Kleider. Gedichte. Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja. Suhrkamp, Berlin 2022, 69 Seiten, 23 Euro