Die Türkei übergibt den ­Prozess wegen der Ermordung Khashoggis an Saudi-Arabien

Handel statt Gerechtigkeit

Die Türkei will den Prozess wegen der Ermordung des saudischen Journalisten Jamal Khashoggi an Saudi-Arabien abgeben.

Hatice Cengiz rang nach Worten. »Wir legen Berufung ein«, sagte sie vor dem Gerichtspalast in Çağlayan. Am 7. April hat die Elfte Strafkammer für Kapitalverbrechen den Mordfall an dem saudischen Journalisten Jamal Khashoggi an Saudi-Arabien abgegeben. Die türkische Staatsanwaltschaft hatte diesen Schritt zuvor mit der Begründung gefordert, dass sich die 26 saudischen Tatverdächtigen im Ausland befänden und deshalb der Prozess nicht vorankomme.

Hatice Cengiz stammt als Tochter eines früheren Beraters des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan aus dem Umfeld der islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP). Am 2. Oktober 2018 wartete sie in der Nähe des saudischen Generalkonsulats in Istanbul vergeblich auf Khashoggi, ihren damaligen Verlobten. Dieser hatte Dokumente abholen wollen, die sie für die Eheschließung benötigten.

Die UN-Sonderberichterstatterin Agnès Callamard sah »glaubwürdige Beweise«, dass der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman persönlich hinter dem Mord stecke.

»Die türkische Regierung hat für Handel statt für Gerechtigkeit entschieden«, sagte Cengiz nach der Bekanntgabe der Entscheidung. Der türkische Journalist Murat Yetkin zitierte auf seinem Blog einen Geschäftsmann aus dem Umfeld der Regierung, der namentlich nicht genannt werden wolle. Diesem zufolge wolle der türkische Präsident mit der Gefälligkeit für Saudi-Arabien die Wirtschaftskrise lindern und sich auf die Wahlen im kommenden Jahr vorbereiten. Der türkische Journalist Ahmet Şık, ein Abgeordneter der Türkischen Arbeiterpartei (TİP), twitterte, das saudische Königshaus habe 50 Milliarden US-Dollar gezahlt, damit die Türkei den Fall abschließe und ihre Ermittlungsergebnisse an den saudischen Geheimdienst übergebe. Die Zahlung ist ein Gerücht; ob es eine direkte Gegenleistung gab, bleibt vorerst Spekulation. Doch zweifellos ist das Ende des Verfahrens in der Türkei der Verbesserung der Wirtschaftsbeziehungen mit Saudi-Arabien dienlich.

Jamal Khashoggi, ein Kolumnist der Washington Post und Kritiker Kronprinz Mohammad bin Salmans, des faktischen Herrschers von Saudi-Arabien, war 59 Jahre alt und lebte bereits seit vielen Jahren im Ausland, als er am 2. Oktober 2018 im saudischen Konsulat in Istanbul von einem eigens aus Saudi-Arabien angereisten Spezialkommando getötet wurde. Seine Leiche ist verschwunden, aber viele Theorien über ihren Verbleib wurden vor allem von regierungsnahen türkischen Medien verbreitet. Eine türkische Zeitung wusste gar zu berichten, die Leichenteile seien im Holzkohleofen des saudischen Konsuls verbrannt worden. Wie auch immer man sich Khashoggis sterblicher Überreste entledigte – bei seinem Tod handelte sich um ein ­Kapitalverbrechen im Auftrag der saudischen Regierung.

Die verhaltenen Reaktionen westlicher Staaten folgten dem Interesse, die Beziehungen zu Saudi-Arabien nicht zu gefährden. Die USA gaben am 15. November 2018 bekannt, Sanktionen gegen 17 saudische Staatsbürger zu verhängen, unter anderem gegen den ­Generalkonsul in Istanbul, Mohammed al-Otaibi. Am 19. November 2018 verhängte Deutschland Einreiseverbote gegen 18 saudische Staatsbürger und stellte alle Rüstungslieferungen nach Saudi-Arabien ein – für zwei Monate.

Knapp vier Monate nach dem Mord begann die UN-Sonderberichterstatterin Agnès Callamard mit Untersuchungen in der Türkei; am 19. Juni 2019 ­veröffentlichte sie einen Bericht. Dieser stuft die Tötung Khashoggis als eine außergerichtliche Hinrichtung ein und fordert Ermittlungen gegen Mohammed bin Salman. Callamard sah »glaubwürdige Beweise«, dass der Kronprinz persönlich hinter dem Mord stecke. Im November 2019 beschuldigte Callamard die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron der Komplizenschaft mit Saudi-Arabien. International sei nicht genug unternommen worden, um den Mord aufzuklären.

Im Gespräch mit dem US-amerikanischen Journalisten Bob Woodward prahlte der damalige US-Präsident Donald Trump damit, Kronprinz Mohammed bin Salman nach dem Mord an Khashoggi »den Arsch gerettet« zu haben, indem er den Kongress davon abgebracht habe, Ermittlungen in den USA einzuleiten. Ein lohnendes Geschäft aus der Sicht Trumps, da das Entgegenkommen mit Waffenkäufen honoriert worden sei: »Bob, sie haben in kurzer Zeit 400 Milliarden US-Dollar ausgegeben.«

Ein impliziter Freispruch bin Salmans erfolgte durch einen nun von der Türkei anerkannten fadenscheinigen Prozess in Saudi-Arabien. Dort wurde 2019 weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit ein Verfahren gegen elf Angeklagte geführt, im Dezember wurden fünf Personen zum Tod und drei zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Rund anderthalb Jahre nach der Ermordung Jamal Khashoggis sagten dessen Söhne, dass sie den zum Tode Verurteilten »verzeihen«, womit sie es ermöglichten, deren Hinrichtung abzuwenden. Im September 2020 hob ein saudisches Gericht die Todesstrafe für die fünf Hauptangeklagten auf und wandelte sie in eine 20jährige Haftstrafe um.

Im Dezember 2021 berichtete der Guardian unter Berufung auf eine Quelle, die mit hochrangigen Angehörigen des saudischen Geheimdiensts in ­Verbindung stehe, mindestens drei Mitglieder des Killerkommandos lebten und arbeiteten »in einer Sieben-Sterne-Unterkunft« in einem von der Regierung betriebenen Sicherheitszentrum in Riad. Es werde vermutet, dass sich die Attentäter in Villen und Gebäuden der saudi-arabischen Staatssicherheit aufhielten – weit weg von den Zellen der berüchtigten Gefängnisse des Landes.

Hatice Cengiz’ Anwalt, Gökmen Başpınar, hat mittlerweile beim Revisionsgericht in Ankara Berufung ein­gelegt, damit der Prozess in der Türkei fortgesetzt wird.