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Die Philosophin Juliane Rebentisch hat ein Buch über Hannah Arendt geschrieben. Darin versucht sie, Arendt unter den Vorzeichen der gegenwärtigen identitätspolitischen Debatten zu lesen – mit mäßigem Erfolg.
Als Hannah Arendt 1972 bei einer Konferenz von dem Politikwissenschaftler Hans Morgenthau gefragt wurde, wo sie sich politisch einordnen würde, zeigte sich die Philosophin ratlos. Sie wisse es nicht, so ihre Antwort. Linke hielten sie für konservativ, die Konservativen wiederum für links, einen »Außenseiter oder Gott weiß was«. Zugleich, so Arendt weiter, lasse sie selbst diese Frage völlig unberührt. »Ich glaube nicht, daß auf diese Weise die wirklichen Fragen dieses Jahrhunderts eine wie auch immer geartete Erhellung erfahren.«
Tatsächlich standen und stehen einige ihrer Überzeugungen quer zum linken Mainstream: Ihre scharfe Trennung des mit einem emphatischen Begriff von Öffentlichkeit verbundenen Politischen vom Bereich des Sozialen und Privaten, ihre Bevorzugung der Amerikanischen, auf Freiheit und Glück zielenden Revolution vor der die soziale Frage ins Zentrum rückenden Französischen Revolution, der Hinweis auf den Nationalstaat als Garant von Minderheitenrechten sowie ein allenfalls marxisierendes statt marxistisches Verständnis von Gesellschaft, all das konnte Linke selten so recht überzeugen. Die Beschreibung Hannah Arendts als liberale Konservative hat durchaus ihre Berechtigung, wenngleich es diesem Konservatismus nicht um die Bewahrung irgendeiner glorifizierten Vergangenheit ging, sondern um die historisch notwendige Rettung dessen, was im Verschwinden begriffen ist. Gerade dies dürfte der Grund gewesen sein, aus dem sie für die Tragweite der zentralen Katastrophe des 20. Jahrhunderts, für die der Name Auschwitz steht, mithin für das Schicksal der Juden in der bürgerlichen Gesellschaft und den Antisemitismus, weitaus sensibler war als viele ihrer linken Zeitgenossen.
Manche gehen so weit, Arendt, vor allem wegen ihrer Ausführungen zum Kolonialismus in »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft«, Rassismus vorzuwerfen.
Zu all diesen Themen gibt es inzwischen eine Unmenge an wissenschaftlicher Literatur, auch im Feuilleton ist Arendts Werk dauerhaft präsent. Sie ist ohne Zweifel als Denkerin in Mode gekommen und geblieben. In den vergangenen Jahren scheint sich in der Rezeption allerdings eine Verschiebung ereignet zu haben: weg vom Kontext der jüdischen Tradition, weg auch von Arendts Beiträgen zu Antisemitismus und totalitärer Herrschaft. Nunmehr wurde Arendt mit ihrem komplexen Verhältnis zum Zionismus beispielsweise von Susan Neiman, der Direktorin des Potsdamer Einstein-Forums und Mitinitiatorin der »Initiative GG 5.3 Weltoffenheit«, in der Debatte über die BDS-Resolution des Bundestags als Kronzeugin gegen eine in Deutschland angeblich »missbräuchliche Verwendung des Antisemitismusvorwurfs« aufgerufen; nach der Logik des Beschlusses, so Neiman damals, dürften »weder Albert Einstein noch Hannah Arendt in Deutschland einen Vortrag halten«. Jenseits solcher Instrumentalisierungen konzentrierte man sich in der wissenschaftlichen und politischen Diskussion in jüngerer Zeit eher auf die demokratie- und anerkennungstheoretisch anschlussfähig erscheinenden Aspekte von Arendts Werk, wobei wiederum ihre Beschäftigung mit Macht, Gewalt und Revolution in den Hintergrund rückte.
Das Buch »Der Streit um Pluralität. Auseinandersetzungen mit Hannah Arendt« von Juliane Rebentisch, Professorin für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung Offenbach, ist ein gutes Beispiel für diese Schwerpunktverschiebung. Die Deutung im Buch legt allerdings einen besonderen Akzent auf jüngst in der postkolonialen und im weitesten Sinne identitätspolitischen Diskussion in den Mittelpunkt gestellte Fragen von Repräsentation und Diskriminierung. Dies führt im Falle des Werks von Hannah Arendt zu nicht unbeträchtlichen Schwierigkeiten, von denen Rebentischs Buch Zeugnis ablegt und mit denen die Autorin erkennbar ringt.
Bereits zu Lebzeiten wurde Arendt für ihre kontroverse Einlassung zur staatlich durchgesetzten Desegregation in »Reflections on Little Rock« kritisiert (geschrieben 1957, 1959 mit einer Replik in der Zeitschrift Dissent veröffentlicht). Anlass des Artikels war die Aufhebung der die seit 1896 bestehenden Rassentrennung an öffentlichen Schulen nach den in den Prozessen Brown vs. Board of Education ergangenen Urteilen, die es afroamerikanischen Kindern gestattete, die Little Rock Central High School zu besuchen. Die Kinder mussten teils mit Polizeischutz und unter großem Protest weißer US-Amerikaner bis in die Klassenzimmer geführt werden, was für landesweite Aufmerksamkeit sorgte.
Zwar kritisierte Arendt unzweideutig den rassistischen Mob und die auch nach der Abschaffung der Sklaverei fortexistierende Segregation. Dennoch verteidigte sie ein Recht auf social discrimination – das angemessen als »soziale Unterscheidung« zu übersetzen wäre und hier vor allem die freie Wahl der Schule durch die Eltern meint –, weil der Staat zwar diskriminierende Gesetze abzuschaffen habe, nicht aber zugleich gesellschaftliche Gleichheit erzwingen könne. Zudem argumentierte sie gegen eine auf dem Rücken der Kinder ausgetragene und vom Staat vorangetrieben Vermischung zwischen dem Sozialen, das heißt in diesem Fall der Bereich der Familie und der Erziehung, und dem Politischen.
Die Intervention zu Little Rock ist nicht das einzige Moment in Arendts Werk, das einer Aneignung unter zeitgenössischen identitätspolitischen Vorzeichen entgegensteht. Manche gehen so weit, Arendt, vor allem wegen ihrer Ausführungen zum Kolonialismus in »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft«, Rassismus vorzuwerfen.
Neu sind weder diese Kritiken noch die Verteidigungen – in den Vereinigten Staaten fanden die entsprechenden Diskussion bereits in den neunziger Jahren statt. Sie alle tauchen in Rebentischs »Der Streit um Pluralität« auf, das für sich in Anspruch nimmt, »Arendt gegen Arendt zu diskutieren«. Schnell wird klar, dass das Buch mit einem kundigen Publikum rechnet. Die in antirassistischen Kreisen gepflegte Großschreibung des Wortes »Schwarz«, um damit zu markieren, dass die Zuschreibung »Schwarz« eine Konstruktion ist, wird ebenso unerklärt verwendet (auch nachträglich eingefügt in historische Quellen) wie die Verfremdung des N-Worts im Zitat. Bilden die identitätspolitischen Debatten zu Beginn noch den Subtext des Buchs, treten sie gegen Ende immer stärker in den Vordergrund.
Rebentisch widmet sich in zehn Kapiteln den wichtigsten Werken Arendts und folgt dabei der These, dass die durchaus disparaten Texte ein »interner Zusammenhang« verbinde, nämlich die Pluralität, die Arendt vor allem in »Vita Activa« sowie in dem erst jüngst auf Deutsch veröffentlichten Vortrag »Sokrates. Apologie der Pluralität« hervorgehoben habe. Darin stellt Arendt die Vielgestaltigkeit der Menschen als eine Bedingung von Öffentlichkeit aus, deren Modell sie – stark idealisiert – der Antike entlehnt. Im Raum der Öffentlichkeit, deren Freiheit vor allem in der Freiheit von der Notwendigkeit der bloßen Lebenserhaltung besteht, »erscheinen« die Menschen einander als zugleich sie selbst und dennoch andere, wobei ihre Einzigartigkeit beziehungsweise die Singularität ihrer Perspektiven sich erst im Streit, in Auseinandersetzung mit anderen entfalten. Arendt denkt dieses Erscheinen in der Öffentlichkeit in einer eigentümlichen Metapher als »zweite Geburt«, wobei es das erste Geborensein ist, das »Faktum der Natalität« (Arendt), in dem für sie die Möglichkeit des Sprechens und Handelns gründet. Während Rebentisch Letzteres zumindest in Teilen zurückweist, erklärt sie die in der Öffentlichkeit erscheinende Pluralität von politisch Gleichgestellten zum wesentlichen, Arendts Werk durchziehenden Motiv und zur notwendigen Bedingung der Verwirklichung der Menschenwürde jedes Einzelnen.
Daran gibt es aber bereits zu Beginn Abstriche, denn es sind vor allem der Gestus des Entweder-oder, eines Lebens entweder in Dunkelheit oder im Licht der Öffentlichkeit, und die scharfen, ja dichotomen Trennungen in Arendts Werk, von denen sich Rebentisch immer wieder distanziert. Ihr gilt dies als systematische Schwäche; dabei spricht vieles dafür, dass es sich bei Arendts Rhetorik, auch da, wo sie polemisch ist, um eine Übertreibungsgeste handelt, die sichtbar machen möchte, was ansonsten verdeckt bliebe. Sie ist Ausdruck des Entsetzens über die nationalsozialistische Barbarei, die auch dort noch subkutan wirkt, wo sie von Arendt nicht oder nur am Rande erwähnt wird.
Der Historiker Dan Diner hat in Hinblick auf »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« von einem »marranischen« Text gesprochen, der dem jüdischen Schicksal gelte, das aus der Partikularität ins Universale gehoben und damit in Teilen um- und überschrieben werde. Rebentisch wiederum gilt die Schroffheit des Urteilens bei Arendt als Konsequenz einer »politischen Optik«, die letztlich ausschließt und das Handeln von Menschen, auch unter totaler Herrschaft, minimiert. Der Begriff der Pluralität wird dergestalt gegen Arendt selbst gewendet, insofern deren Dichotomien als wiederum Pluralität einschränkende Mechanismen verstanden werden. Arendts jüdische Erfahrung kommt nur insoweit in den Blick, als sie von Rebentisch als letztlich partikularistische Verengung der Perspektive gedeutet wird.
Instruktiv ist das Buch da, wo es von den Auseinandersetzungen Arendts unter anderem mit den Schriftstellern James Baldwin und Ralph Ellison erzählt. Und dennoch stellt sich bei fortschreitender Lektüre der Eindruck ein, dass Arendt vor allem auf heutzutage gängige Topoi und Positionen hin befragt wird, um sie auszuschließen aus dem »Projekt (…), Bezüge zwischen Kolonialismus, Sklaverei, Rassismus auf der einen und Nationalsozialismus, Holocaust, Antisemitismus auf der anderen« herzustellen. Ohne Zweifel gibt es im Werk von Hannah Arendt Passagen, die philosophisch, politisch oder historisch verstörend oder kaum haltbar sind; auch deswegen, weil sich ihre Schriften beständig Zuordnungen entziehen. Nicht immer ist das Verwerfen so einfach, wie Rebentisch suggeriert; häufig stehen erhellende Intuition und zweifelhafte Konsequenz nebeneinander.
So konstatiert Arendt im Imperialismus-Kapitel von »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« ganz richtig, dass der Rassismus als Legitimationsideologie (nicht als transhistorische Ursache allen Übels, wie derzeit häufig insinuiert wird) einen Rückhalt in der Erfahrung braucht, an die er sich als Wahn heften kann. Gleichwohl verschwimmen in der an Bauchrednerei erinnernden, sich gewissermaßen in die Kolonisatoren hineinversetzenden Art des Schreibens die direkte und indirekte Rede bis zur Ununterscheidbarkeit, so dass unklar ist, ob hier Arendt spricht oder die rassistische Imagination referiert wird. Auch Arendts Bezug auf eine vermeintlich »wirkliche Rasse« ist mehr als irritierend.
Dennoch scheint die bei Anne Norton entlehnte Rede von Arendts »philosophischem Kolonialismus« eher einem zeitgeistigen Bedürfnis nach klarer politischer Zuordnung und einem neuen, postkolonialen Kanon zu entspringen, als Arendts Denkbewegung gerecht zu werden. So ergibt sich ein paradoxer Eindruck, nämlich dass sich die Autorin Rebentisch selbst so ganz sicher nicht zu sein scheint, ob es für das, was an Arendt zu retten wäre, Arendt überhaupt noch braucht. Wenn es stimmt, dass die »Dichotomien von Welt und Leben, von Öffentlichkeit und Privatheit und von Politischem und Sozialem« nicht überzeugen, aber »all ihren kritischen Einsätzen unterliegen«, stellt sich die Frage, was eigentlich noch mit Arendt anzufangen sei. Das führt zu eigentümlichen Spannungen und Widersprüchen. Während sich Rebentisch zu Beginn des Buchs von Arendts Bezug auf die Natalität distanziert, in der immerhin noch eine Ahnung vom Menschen als leiblichem Wesen zu spüren ist, übernimmt sie im letzten Kapitel Judith Butlers umstandslose Rede von Subjekten als »Körpern«, die nichts auszeichnet als ihre »Verletzlichkeit« und die sie nicht weniger dichotom der Öffentlichkeit gegenüberstellt.
Auch an anderer Stelle darf es so historisch unpräzise und absolut werden, wie es an Arendt beständig kritisiert wurde. So bezieht sich Rebentisch im Kontext von Arendts Auseinandersetzung mit Rassismus und Sklaverei auf jüngere Theorien aus den Black Studies, unter anderem von Orlando Patterson, Saidiya Hartmann und Fred Moten. In deren Schriften, so kritisierte 2019 Kenneth Warren, werde Sklaverei zur transhistorischen Konstante ohne jeden präzisen Bezug zu ihrem Charakter als Produktionssystem erklärt und blackness, wie Rebentisch mit Moten schreibt, zur »absoluten« Position aufgebauscht – womit sich die historische Spezifität, die schon bei Arendt nicht eben hervorgehoben wird, weiter verdünnt.
Auch der Begriff von Pluralität hat am Ende des Buchs einiges von seiner Kraft verloren. In der Gestalt, in der er am Anfang des Buchs entfaltet wird, lässt er sich nämlich durchaus gegen jene identitätspolitischen Initiativen wenden, die Streit durch das Beharren auf »Positionalität« gerade verunmöglichen. Arendt denkt das Erscheinen im Raum der Öffentlichkeit gerade nicht als Auftritt vorab feststehender Identitäten, wie Rebentisch selbst herausstellt; diese ergeben sich für Arendt allenfalls nachträglich und zuweilen auch gegen die Intention der Individuen selbst.
Spätestens gegen Ende des Buchs hat sich die Rede von Pluralität, die doch etwas anderes sein soll als Pluralismus und diversity, vollständig auf die Ebene von Repräsentation und das Sprechen in der Öffentlichkeit eingeschränkt. Dieser liegt ein einzig auf Diskriminierungen fixiertes Verständnis von Gesellschaft zugrunde, in dem nicht zufällig Klasse neben vielen anderen Ismen nur noch als Klassismus vorkommt, der die Benachteiligung wegen Armut und nicht die Armut selbst moniert. Nicht etwa die Empörung über das »Leiden der Kreatur« (Adorno), sondern das »Staunen« über die Pluralität der Perspektiven ist Rebentisch zufolge die »entscheidende Quelle« der Moral. Und auch der lediglich in der Einleitung diskutierte Wahrheitsbegriff (der schon dort auf Wahrhaftigkeit, also das reflektierte Verhältnis zur eigenen Meinung, verkürzt wird) ist am Ende ganz in den Hintergrund getreten – wo doch Streit darauf zielen sollte, der Wahrheit näher zu kommen.
Juliane Rebentisch: Der Streit um Pluralität. Auseinandersetzungen mit Hannah Arendt. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2022, 287 Seiten, 28 Euro