Solidarität unter Linken bestimmt sich nicht über das Wahlverhalten

Der Fußtritt der Umwälzung

Ob man wählen soll, ist die falsche Frage. Es kommt darauf an, ob linke Parlamentarier und staatsferne Linke für die Interessen Unterdrückter und Ausgebeuteter eintreten.

Esther Bejarano, Überlebende der Shoah, betrieb im Mai 1978 in Hamburg-Eimsbüttel eine kleine Schmuckboutique, als an einem Samstagvormittag mitten im Wahlkampf zum Hamburger Landesparlament, der Bürgerschaft, die NPD in der Nähe einen Informationsstand aufbaute – umringt von Protestierenden und einem Polizeitrupp, der den Stand der NPD schützte. Bejarano empörte sich darüber, dass Nazis wieder auf der Straße präsent sein konnten.

Auch linke Abgeordnete können unabhängig von den Sachzwängen parlamentarischer Betriebsamkeit agieren. Essentiell ist Offenheit für selbstorganisierte Politik von unten.

Vor allem radikale Linke protestierten an diesem Tag gegen die zahlreichen Stände der NPD, die Parteien waren mit ihrem eigenen Wahlkampf beschäftigt. Zwei Ausnahmen gab es: die DKP und vor allem die »Bunte Liste – Wehrt euch: Initiative für Demokratie und Umweltschutz«, die mit Hilfe des Kommunistischen Bundes entstanden war, beteiligten sich an den Protesten. Der Polizeischutz für die NPD war danach Stadtgespräch. Die Landesregierung aus SPD und FDP rechtfertigte sich: Eine legale Partei habe das Recht auf Schutz ihrer Betätigung.

Bejarano begann, sich antifaschistisch zu engagieren. Sie wurde Mitgründerin des Auschwitz-Komitees in der Bundesrepublik Deutschland e. V., trat der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten bei und wurde Mitglied der DKP, für die sie 2017 beinahe bei der Bundestagswahl kandidiert hätte. Aber Wahlkämpfe waren nie ihr Betätigungsfeld: Das war die antifaschistische Basisarbeit – sie sprach im Lauf der Jahrzehnte vor Hunderten Schulklassen, auf vielen Demonstrationen und Veranstaltungen. Unvergessen sind die Auftritte ihrer Band Coincidence bei den jährlichen Ver­anstaltungen zu den Novemberpogromen, später ihre Konzerte mit der HipHop-Band Microphone Mafia.

Dieses Engagement ist wesentlich wichtiger als die Frage, ob Bejarano bei Wahlen nun für die DKP, die Linkspartei oder sonst wen gestimmt hat. Selbstverständlich sollten alle hierzulande Lebenden, die strafmündig sind, das Recht haben zu wählen. Aber das Kreuz in der Wahlkabine, das alle paar Jahre gemacht wird, bringt nichts von Dauer. Es zu setzen, sollte nicht als Handlung angesehen werden, die über Sein oder Nichtsein linker Infrastruktur entscheidet, wie Felix Schilk nahelegt.

Schilk schreibt auch, Wahlergebnisse könnten »den Rahmen öffentlicher Debatten verschieben. Ohne Zweifel hat der Aufstieg der AfD die deutschen Debatten über Asylrecht wesentlich beeinflusst.« Das ist schon eine arge Überbewertung von Wahlen: Selbstverständlich handeln Parlamente mit aus, wie die Exekutive agiert. Aber das beruht in der Regel auf gesellschaftlichen Entwicklungen und dem Bedarf nach guten Rahmenbedingungen für die Kapitalakkumulation. Wie reaktionär oder progressiv eine Regierung oder eine parlamentarische Mehrheit ist, hat natürlich Auswirkungen darauf, wie die Bundesrepublik Deutschland regiert wird. Aber gesellschaftliche Kräfteverhältnisse und die Krisenzyklen der Ökonomie wirken viel stärker.

Wie bei der Debatte über das Asylrecht: Das deutschnationale Erwachen seit 1989 beeinflusste sie wesentlich stärker als die AfD seit 2015. Nach der tagelangen gewalttätigen Belagerung der Zentralen Aufnahmestelle für Geflüchtete in Rostock-Lichtenhagen im August 1992 schränkte der Bundestag im Mai 1993 das Asylrecht stark ein. Die Gegenbewegung 2015, als kurzzeitig die Grenzen Deutschlands für Geflüchtete offen waren, für die nach EU-Regeln andere Staaten zuständig gewesen wären, wurde nicht von Parteien erreicht: Die Geflüchteten vor allem aus Syrien erzwangen ihre Aufnahme, indem sie beharrlich für sie demonstrierten. Auch die Uneinigkeit der EU-Mitgliedsstaaten darüber, wie bei der Flüchtlingsabwehr vorzugehen sei, ermöglichte diese Bewegung. Mit Wahlergebnissen in Deutschland hatte sie nur sehr bedingt etwas zu tun.

Felix Klopotek hat in seiner Erwiderung auf Schilk aus gutem Grund betont, dass es in Westeuropa nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion »Erfolge linker – sozialistischer oder sozialdemokratischer – Parteien« gab. Für die Zeit ab Ende der neunziger Jahre stehen Lionel Jospin in Frankreich, Tony Blair in Großbritannien, Romano Prodi in Italien und Gerhard Schröder in Deutschland. Deren Regierungen haben unter anderem den Sozialstaat stark abgebaut sowie staatliche Betriebe und Daseinsvorsorge privatisiert. Auch rechte Regierungen betrieben eine solch reaktionäre Politik, sahen sich dabei aber mit stärkerer Gegenwehr von Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Gruppen konfrontiert als zum Beispiel die rot-grüne Bundesregierung unter Schröder: Das war ja schließlich eine vermeintlich linke Regierung, und für das Hinnehmen des Sozialabbaus und der Bombardierung Belgrads hat man immerhin das Dosenpfand bekommen.

Das dem Lagerdenken geschuldete Stillhalten in Anbetracht der reaktionären Politik dieser Regierung war fatal. Die gesellschaftliche Linke kann nur verlieren, wenn sie sich zum duldsamen Statisten einer vermeintlich linken Regierungspolitik entmündigt und kaum gegen Sozialabbau sowie Deregulierung protestiert, wenn links gelabelte Parteien beides exekutieren.

Die radikale außerparlamentarische Linke agiert jenseits der Sachzwänge parlamentarischer Betriebsamkeit. Parlamentarische Linke können das auch, wenn sie sich mit der Beschränktheit und den Fallstricken parlamentarischer Arbeit kritisch auseinandersetzen. Essentiell ist Offenheit für selbstor­ganisierte Politik von unten, die an emanzipatorischen und Klasseninteressen ansetzt.

Wer diesen Ausgangspunkt teilt, kann sich verständigen – auch wenn die eine im Parlament Reden hält und die andere eine Kampagne für graswurzelrevolutionären Wahlboykott organisiert; solche Kampagnen gab es übrigens, anders als Klopotek schreibt, in den vergangenen 30 Jahren durchaus. Solidarität und gemeinsame Interessen bestimmen sich nicht über das Wahlverhalten oder die Mitgliedschaft in ­Parteien, sondern über den Versuch, Sozialabbau und gesellschaftliche Rückwärtsentwicklungen abzuwehren sowie Ansätze zu Selbstermächtigung zu schaffen, die über den Kapitalismus hinausweisen. Solche Ansätze sollen Selbstorganisation gegen Ausbeutung und Benachteiligung ermöglichen – für einen radikalen Bruch mit Kapitalverwertung und Naturzerstörung. Und sie sollten mit der deutschen Ideologie brechen, sich also nicht positiv auf deutsche Nationalität beziehen und immer von der Frage ausgehen: Wie lassen sich die deutschen Zustände kritisieren und unterlaufen?

Klar gibt es auch die vermeintlich linke Abgeordnete, die mit reaktio­närem Ressentiment gegen »Lifestyle-Linke« wettert. Aber es gibt auch die andere Abgeordnete oder Funktionärin, die sich gegen Sexismus, Autoritarismus und Antisemitismus stark macht und so – auch in ihrer gar nicht so fortschrittlichen Partei – zur Negation der Verhältnisse beiträgt, während das Mitglied einer sich radikal gerierenden antiimperialistischen Gruppe unter Berufung auf Stalin völkisch gegen Israel für ein Palästina »vom Fluss bis zum Meer« eintritt. Das zeigt: Staatsferne und Parlamentarismuskritik sind gut, aber eben nicht alles.

Doch wie Rosa Luxemburg in »Sozialreform oder Revolution?« schrieb: »Die gesetzliche Reformarbeit hat eben in sich keine eigene, von der Revolution unabhängige Triebkraft, sie bewegt sich in jeder Geschichtsperiode nur auf der Linie und solange, als in ihr der ihr durch die letzte Umwälzung gege­bene Fußtritt nachwirkt, oder, konkret gesprochen, nur im Rahmen der durch die letzte Umwälzung in die Welt gesetzten Gesellschaftsform.« Linke zehren so gesehen immer noch vom Sieg der Alliierten über Nazideutschland, auch wenn dieser nicht zur Revolution, sondern zur Oktroyierung einer repräsentativen Demokratie führte. Vielleicht kommt daher auch das typisch deutsche Gegeneinander von Autoritarismus und Pluralismus.

Wie Federica Matteoni und Markus Liske treffend kritisiert haben, ist der Wahlkampf zur PR-Kampagne für das bessere Parteiprodukt verödet. Da ist es einem fast egal, ob emanzipatorische Linke für eine Stimmabgabe oder für Wahlboykott eintreten – Hauptsache, sie argumentieren inhaltlich und mit einer Perspektive, die hinausweist über die schwer erträglichen Verhältnisse der Knechtung, Erniedrigung und Zerstörung für den Profit und Deutschland.

 

Am Sonntag ist Bundestagswahl. Wie hält es die Linke mit Wahlen im bürgerlichen Staat? Felix Schilk argumentierte, dass durch Nichtwählen nichts gewonnen sei. Felix Klopotek hielt dagegen, dass ein Wahlerfolg linker Parteien der radikalen Linken nicht nütze. Federica Matteoni kritisierte, auch Linke ließen sich im Wahlkampf immer mehr von Empörungswellen treiben . Markus Liske monierte die Inkompetenz der Parteien in PR-Fragen.