Porträt - Nach seinem jüngsten Auftritt sitzt der russische Aktionskünstler Pawel Krisewitsch in Untersuchungshaft

Kritik mit Platzpatronen

Porträt Von Ute Weinmann

<p>Auf dem Roten Platz in Moskau gab Pawel Krisewitsch am Freitag voriger Woche zwei Warnschüsse aus einer Schreckschusspistole ab. Ein dritter Schuss brachte ihn zu Fall.</p>

Auf dem Roten Platz in Moskau gab Pawel Krisewitsch am Freitag voriger Woche zwei Warnschüsse aus einer Schreckschusspistole ab. Ein dritter Schuss brachte ihn zu Fall. Unmittelbar zuvor hatte er lauthals ein kurzes Manifest gegen staatliche Repression verlesen, das sein Rezept gegen die allgegenwärtige Angst davor enthielt. »Hey! Polizeistaat! Zukünftiger failed state! Auf Gewalt und Repression antworten wir mit Furchtlosigkeit!« Kaum war das Spektakel zu Ende, packten Polizisten den Aktionskünstler und trugen ihn weg. Außerdem nahmen sie eine 19jährige Journalistin fest, die den Vorgang filmte. Gegen beide läuft ein Strafverfahren wegen Hooliganismus, Krisewitsch sitzt seit Sonntag in Untersuchungshaft.

Geboren im Jahr 2000 in Sankt Petersburg, erfüllte Krisewitsch alle Voraussetzungen, um im russischen Staatsdienst Karriere zu machen. Als Sieger eines landesweiten Schülerwettbewerbs landete er nicht nur im Fernsehen, sondern erwarb die Option, ohne Aufnahmeprüfung ein Studium an jeder beliebigen Hochschule aufzunehmen. Auf Drängen seiner Familie absolvierte er ein Semester an dem elitären Moskauer Institut MGIMO zur Ausbildung zukünftiger Diplomaten. Danach leistete er bis Frühjahr 2020 einen einjährigen Wehrdienst ab und schrieb sich an einer anderen Universität ein.

Doch im November wurde er wegen einer Performance zwangsexmatrikuliert. Vor dem Hauptgebäude des russischen Staatsschutzes FSB hatte er sich in Jesus-Pose mit einem riesigen Holzkreuz in Stellung gebracht, während vor ihm ein Feuer aus symbolischen Gerichtsakten aktueller skandalöser politischer Fälle brannte. Erst diese Aktion machte ihn bekannt, obwohl ihr etliche andere vorausgegangen waren.

Seinen Werdegang macht Krisewitsch an zentralen Ereignissen der jüngeren Geschichte fest. Den Umsturz in der Ukraine 2014 mit den brennenden Barrikaden beobachtete er als Jugendlicher mit Faszination. Bücher über die russische Revolution verschlang er daraufhin mit Interesse, kommunistische Parteistrukturen führten zur Ernüchterung – der Anarchismus liegt im näher. 2017 animierte ihn, wie so viele andere auch, der Oppositionspolitiker Aleksej Nawalnyj zu Straßenprotesten. Seither trat Krisewitsch immer allein auf, vor allem um niemanden zu gefährden. Sein Traum: ein Staat, dessen Funktionen sich auf ein Minimum beschränken. Russland, sagte er in einem Interview, könne ein anarchistisches ­Experiment nicht schaden.