Die künstlerischen Strategien des Fotografen Christopher Williams

Loch in der Wand

Der Konzeptkünstler Christopher Williams spielt in seiner neuen Ausstellung in Berlin mit der Institution Kunst.

Das Modell ist ein vereinfachtes Abbild der Wirklichkeit, so wie ein Model ein vereinfachtes Abbild einer Frau ist. Nichts soll in der schematischen Darstellung stören und von dem ablenken, was gesehen werden soll. Die Modelle des Fotografen und Konzeptkünstlers Christopher Williams sind allerdings trotz der Akribie ihrer Ausführung alles andere als vereinfacht. Im Ausstellungshaus C/O Berlin, in dem derzeit Arbeiten des Künstlers gezeigt werden, hängt in jedem Raum jeweils ein Schild mit der Aufschrift »Model« an der Wand. Von weitem sehen sie tadellos gefertigt aus, doch schaut man von nahem genauer hin, sieht man, dass die großen Buchstaben mit einer tintenähnlichen Flüssigkeit auf das Trägermaterial aufgebracht und an den Rändern leicht verschmiert sind, keine gerade Kante haben. Der Schein des Akkuraten, er trügt.

Genaues Hinsehen ist gefragt bei Williams, denn überall in dieser Ausstellung trifft man nicht nur auf solche Imperfektionen, sondern auch auf allerhand Spuren. An einer Stelle steht man sogar buchstäblich davor und sieht es doch nicht: Die Wand in einem Raum ist mit einer Raufasertapete tapeziert, die normalerweise in einem White Cube nichts verloren hat. Eigens für die Ausstellung wurde sie an der Wand angebracht, sie ist Teil der Reinszenierung einer früheren Ausstellung von Williams, gleichzeitig zitiert sie eine deutsche Erfindung. Für die (west-)deutsche Konsumkultur hat Williams eine Schwäche, in allen möglichen Arbeiten des an der Kunstakademie Düsseldorf Fotografie lehrenden US-amerikanischen Künstlers taucht sie auf, sei es durch Schokolade der Marke Ritter-Sport, Äpfel oder Fotofilm aus der ehemaligen DDR.

In der Mitte des Raumes, auf der Rückseite einer Ausstellungswand, klebt ein Zettel, der auch eine Spur ist. Die Adresse des Museum of Modern Art in New York ist darauf zu lesen, Absender ist das Art Institute of Chicago. Diese Wände wurden in den siebziger Jahren ausschließlich für die Präsentation von Fotografien gestaltet, deswegen sind sie hier von Interesse. Das Zeigen von Fotografien gehört für Williams zum Medium Fotografie dazu. Displays kommen aber nicht nur materiell in der Ausstellung vor, sondern auch in den Bildern: Eine Fotografie zeigt das Schaufenster einer Reinigung in Köln bei Nacht, die Preise für die einzelnen Leistungen sind auf leuchtende Lampen gedruckt. Etwas zu zeigen mit der Hilfe von Licht – das schafft auch die Fotografie.

Williams macht nicht nur Fotoausstellungen über Fotografie, sondern auch Ausstellungen über Ausstellungen, und auch diese bildet keine Ausnahme. Die Stellwand, die aus Chicago nachgeschickt wurde, ist nur ein Teil des Ausstellungsmobiliars, das selbst zum Kunstwerk wird. Andere Stellwände haben Löcher, durch die man in das Innere schauen kann, manche stehen durchtrennt im Raum herum. Apropos Mobiliar: Auch eine Couchgarnitur ist in die Ausstellung integriert, auf einem Podest stehen Sofa und Sessel (gestaltet vom Künstler Franz West), buchstäblich wie in einem Theaterstück, denn die Installation nimmt Bezug auf ein Stück, das Williams geschrieben hat und das 2017 in Zürich zur Aufführung kam. Diese Arbeit wurde zuletzt Mitte ­Oktober auf der Frieze Art Fair in London gezeigt, die Mitarbeiter seiner Galerie, die den Messestand betreuten, waren dazu angehalten, die Theatertruppe zu mimen. Der Kunstmarkt als Theater.

Im Nebenraum wird auf Williams’ Wunsch Harun Farockis »Ein Bild« gezeigt. Der Film von 1983 zeigt das Shooting des nackten Models, das traditionell in der Mitte des Playboy als centerfold abgebildet ist. So viel ­geschossen wird allerdings nicht: Das perfekte Bild bedarf vor allem des präzisen Positionierens des Models. Unendlich lang werden Kissen drapiert, wird Licht arrangiert, der jungen Frau gesagt, wie sie ihre Beine auszurichten hat, damit sie nicht aussehe »wie amputiert«, wie der Fotograf bemerkt. Farocki fährt langsam mit der Kamera durch das Studio und enttarnt damit das Setting als eine Konstruktion, im buchstäblichen Sinne. Überall stehen Blitzmaschinen herum, die Kamera ist ein fragiles Gerät, das auf mehreren Stativen ­balanciert. Und der Kamin, vor dem das Model liegt und der Landhaus­charme versprühen soll, ist von verschwitzten Arbeitern im Fotoatelier nachgebaut worden. Das Bild, das von dem Nacktmodell gemacht wird, ­bekommt der Zuschauer des Films allerdings nie zu sehen. Zwar sieht man, wie das Team die Probeabzüge begutachtet, doch um das Resultat geht es diesem Film nicht, sondern, wie auch bei Williams, um das Zum-Sehen-Bringen. Immer wieder blitzt das Logo des Fototechnikherstellers Balcar im Film auf.

Auf den Schriftzug Balcar trifft man noch ein weiteres Mal in dieser Ausstellung, in einer Fotografie von Christopher Williams, die ein Model mit großen Brüsten in einem Strandkorb sitzend und keck in Richtung ­Kamera lachend zeigt. Im rechten Bildrand steht angeschnitten das Wort Balcar, kurz denkt man irritiert, man hätte es mit einer Werbung für das Modehaus Balenciaga zu tun. Den Titel dieser Arbeit wiederzugeben, ist wegen des begrenzten Platzes unmöglich; Williams gibt seinen Fotografien unglaublich lange Titel, die eine Aufzählung nicht nur der Dinge darstellen, die man im Bild sieht, sondern auch, wann und wo das Bild gemacht wurde. So erfährt man die Abmessungen des Strandkorbs, welche Firma ihn hergestellt hat, dass das Model das Playmate des Jahres 2012 gewesen ist (eine weitere Übereinstimmung oder sogar schon Referenz auf den Film von Farocki) und dass das Bild in Düsseldorf aufgenommen wurde. Dieses peinlich genaue Offenlegen der Produktionsbedingungen ist Williams’ Form der Institutionskritik, eine seit den Siebzigern von Künstlerinnen und Künstlern praktizierte Herangehensweise, in der die Institution Kunst selbst in den Arbeiten in Frage gestellt und befragt wird.

Doch das etwas bieder klingende Attribut »Institutionskritik« scheint für die zum Teil auch (und das ist nicht negativ gemeint) fadenscheinigen Arbeiten von Christopher Williams nicht ganz zu passen, der selbst in Interviews oft darauf verwies, dass ihm playfulness besonders wichtig sei. Williams betreibt viel eher ein Spiel mit der Institution Kunst (oder explizit eines mit der Fotografie, wenn er beispielsweise ein Foto von einem Baby neben riesigen Kochtöpfen zeigt, das frappant an Stockfotos von Bildagenturen erinnert, die Kombination von Kind und Topf allerdings das Ganze ins Absurde zieht), ein Spiel aber, das nicht aufgeht. Denn alle Versuche, hinter die Fassade zu schauen, zum Beispiel hinter oder besser in die Stellwände, oder, wenn Williams auch in dieser Ausstellung eine seiner vielen Fotografien zeigt, auf der eine schematische Darstellung einer auseinandergeschnittenen Kamera zu sehen ist, seine Anstrengungen, ein Geheimnis zu lüften, seine Bemühungen, ­Modelle zu schaffen, resultieren nur immer wieder in abstrakten Bildern und verwirrenden Titeln. Eine Sisyphusarbeit, mit der auch der Besucher alleine gelassen wird, denn einen Ausstellungstext gibt es auf Anweisung des Künstlers nicht. Braucht man aber auch nicht. Wenn man sich auf seine Augen verlässt, kriegt man hier genug zu sehen.

Die Ausstellung »MODEL: Kochgeschirre, Kinder, Viet Nam (Angepasst zum ­Benutzen)« ist noch bis zum 29. Februar bei C/O Berlin zu sehen