Mehr Pflegekräfte sollen her, aber kosten sollen sie möglichst nichts

Lernen für den Niedriglohn

Die Bundesregierung will die Zahl der Auszubildenden in der Pflege­branche steigern, tut aber wenig, um die Arbeit dort attraktiver zu gestalten.

Die Zustände in deutschen Pflegeheimen macht vielen Menschen Angst – zu Recht. Aus Furcht, in ein Heim zu geraten und dort menschenunwürdig ­behandelt zu werden, zogen 2016 sechs Senioren vor das Bundesverfassungsgericht. Doch die Verfassungsrichter nahmen die Klage gar nicht erst an, die Senioren hätten nicht deutlich gemacht, »unter welchen Gesichtspunkten die bestehenden landes- und bundesrechtlichen Regelungen zur Qualitätssicherung evident unzureichend sein sollten«.

Zahlreiche persönliche Erfahrungen, statistische Erhebungen und wissenschaftliche Untersuchungen belegen jedoch, woran es hakt: Die allermeisten Pflegeeinrichtungen und Kliniken beschäftigen zu wenig Personal. Bewohner und Patienten werden verwahrt und ruhiggestellt – und nicht angemessen betreut oder unterstützt dabei, möglichst eigenständig zu leben, von Unterhaltung und Beistand bei seelischen Krisen gar nicht zu reden. Das kostet Zeit, die Pflegekräfte nicht haben.

Private Pflegeträger versuchen, Tarifverträge zu verhindern oder allenfalls für einzelne Häuser abzuschließen.

Nachdem Union und SPD die vergangene Legislaturperiode in Sachen Pflegequalität beinahe untätig ver­streichen ließen, haben sie im neuen Koalitionsvertrag vereinbart, die ­»Konzertierte Aktion Pflege« ins Leben zu rufen. Familienministerin Franziska Giffey (SPD), Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) versuchen, gemeinsam mit Verbänden und Gewerkschaften die Lage in der Pflege zu verbessern. Ende Januar haben sie mit der »Aus­bildungsoffensive Pflege« einen ersten Schritt getan.

Zu Jahresbeginn trat ein Gesetz in Kraft, das die Finanzierung von 13 000 neuen Stellen in der Pflege vorsieht. Das reicht zwar nicht, um den bestehenden Personalmangel zu beheben, dafür wären nach Auffassung der Gewerkschaft Verdi allein für die Kliniken mehr als fünfmal so viele neue Stellen nötig. Aber schon die 13 000 vorgesehenen zu besetzen, wird schwierig. Bei der Bundesagentur für Arbeit (BA) ­waren im Dezember 2018 24 000 offene Stellen allein in der Altenpflege registriert. »Die Dunkelziffer liegt wohl eher bei 50 000 Stellen, da viele Betriebe schon längst nicht mehr alle Stellen aufgrund von Aussichtslosigkeit der BA melden«, heißt es in einer Erklärung des Bundesverbands privater Anbieter sozialer Dienste (BPA), dem größten deutschen Arbeitgeberverband für die private Sozialwirtschaft, dessen Präsident der frühere Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) ist. In den vergangenen Jahrzehnten ist die Zahl der pri­vaten Anbieter im Gesundheitswesen stark gestiegen. Für Investoren ist dieser Bereich attraktiv und profitabel – anders als für die Beschäftigten.

Weil die Bedingungen in der Pflege so hart sind, müssen viele Beschäftigte aus gesundheitlichen Gründen den ­Beruf wechseln, etwa wegen Rückenproblemen oder psychischer Überlastung. 30 Prozent brechen die Ausbildung in der Pflege ab. »Ohne gute Arbeitsbedingungen und faire Löhne steuern wir auf eine Krisensituation zu«, sagt auch Arbeitsminister Heil. Mit der »Ausbildungsoffensive Pflege« soll bis 2023 die Zahl der derzeit 68 000 Auszubildenden in der Pflege um zehn Prozent steigen. 111 Maßnahmen sind vorgesehen, um dieses Ziel zu erreichen. Wo noch Schulgeld für die Ausbildung gezahlt werden muss, soll es durch eine Vergütung für die angehende Pflegekraft erstattet werden. Statt wie bislang verschiedene Ausbildungsgänge zur Alten-, Kinderkranken- oder Krankenpflegerin gibt es künftig eine zweijährige ­allgemeine Ausbildung für alle mit anschließender Spezialisierung. ­Außerdem sollen 5 000 neue Weiterbildungsplätze geschaffen werden, um angelernte Kräfte zu qualifizieren.

Was Pflegekräfte verdienen, unterscheidet sich von Land zu Land und von Träger zu Träger der jeweiligen Einrichtung. Der Mindestlohn in der Pflege liegt bei 11,05 Euro im Westen und 10,55 Euro im Osten. Viele Beschäftigte arbeiten als angelernte Helfer ohne Ausbildung. Aber auch qualifizierte Kräfte, die etwa bei ambulanten Diensten arbeiten, werden oft mit einem Stundenlohn um die zwölf Euro abgespeist. Viele Beschäftigte arbeiten zudem in Teilzeit, weil die Arbeitsbelastung so hoch ist. Verdi fordert min­destens 16 Euro für Fachkräfte, Angelernte sollen mindestens 12,84 Euro ­erhalten, und zwar in Ost und West. Darüber hinaus fordert die Gewerkschaft eine Reihe von Verbesserungen für den Arbeitsalltag, etwa dass Pflegekräfte ihre Schichten nicht alleine absolvieren dürfen.

Doch Verdi hat im Gesundheitswesen einen schweren Stand. Die Gewerkschaft muss mit vielen Arbeitgebern einzelne Haustarifverträge schließen. Dazu sind längst nicht alle Arbeitgeber bereit. Wegen des geringen Organisationsgrads der Beschäftigten ist es schwer, Arbeitskämpfe zu führen – auch wenn das angesichts der prekären Lage an immer mehr Kliniken gelingt, etwa an der Berliner Charité. Beschäftigte in der Pflege hätten gegenüber den Arbeitgebern eine viel stärkere Stellung, wenn es einen bundesweiten Tarif­vertrag für die ganze Branche gäbe. Verdi fordert, dass die Bundesregierung einen solchen Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt. Das ist nach dem Entsendegesetz möglich und in anderen Branchen wie dem Bau auch schon geschehen. Die Bundesregierung wäre, so steht es zumindest im Koalitionsvertrag, auch dazu bereit.

Das ist aber nicht so einfach. Es gibt zwar eine Menge Vereinbarungen im Gesundheitswesen, aber sie sind zu sehr auf einzelne Bereiche zugeschnitten. Für einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag bräuchte es eine Gewerkschaft und einen übergreifenden Arbeitgeberverband. Auf Arbeitgeber­seite gibt es die weltlichen gemeinnützigen Wohlfahrtsverbände, die kirch­lichen An­bieter und die privaten, profitorientierten Träger. Kirchliche Arbeitgeber schließen grundsätzlich keine Tarifverträge ab. Das ist legal, weil für sie ein spezielles Arbeitsrecht gilt. Auf die privaten Träger ist nicht zu zählen. »Wir sehen die Versuche, allgemeinverbindliche Tarifverträge in der Pflege zu erleichtern, als schwerwiegenden Eingriff in die Tarifautonomie«, sagte Brüderle. Private Anbieter versuchen, den Abschluss von Tarifverträgen zu verhindern oder Verträge allenfalls für einzelne Häuser abzuschließen. Verdi zufolge liegen die Einkommen der Beschäftigten in privaten Einrichtungen einige Hundert Euro im Monat unter denen, die Pflegekräfte in Häusern erhalten, in denen der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst gilt. Denn indem sie Personalkosten drücken, können private Gesundheitsunternehmen Gewinn machen.

Weltliche Wohlfahrtsverbände wie die AWO oder das Rote Kreuz dagegen wollen einen bundesweiten Tarifvertrag ermöglichen und einen neuen Arbeitgeberverband gründen. Ihm sollen 23 Organisationen und Fachverbände angehören. Das allein wird aber nicht reichen. Um die Allgemeinverbindlichkeit durchsetzen zu können, müssten die kirchlichen Verbände einbezogen werden, sagt der AWO-Vorsitzende Wolfgang Stadler. Das könnte über gemeinsame Erklärungen geschehen. ­Allerdings soll es auch einige private Träger geben, die den neuen Arbeit­geberverband unterstützen würden. Schließlich dürfte auch ihnen klar sein, dass ihr Geschäftsmodell ohne eine ausreichende Anzahl an Beschäftigten nicht funktioniert.