Yuval Ofer, Pressesprecherin des Israel Women Network, im Gespräch über die jüngsten ­feministischen Proteste in Israel

»Religiöse Gerichte urteilen häufig nicht zum Wohl der Frauen«

Interview Von Till Schmidt

Yuval Ofer ist Pressesprecherin der 1984 gegründeten Organisation Israel Women Network, die sich für die Gleichberechtigung von Frauen in Israel einsetzt.

Wofür setzt sich die Organisation ­Israel Women Network ein?
Das Israel Women Network (IWN) setzt sich für Frauenrechte in allen gesellschaftlichen Bereichen Israels ein. Als führende Frauenrechtsorganisation haben wir seit unserer Gründung 1984 an einigen wegweisenden Verände­rungen mitgewirkt, so etwa an der verbesserten Gesetzgebung gegen sexu­elle Belästigung oder der stärkeren Öffnung der israelischen Streitkräfte für Frauen. Wir verstehen uns als aktivistischer Think Tank, weshalb wir Kontak­te sowohl zu sozialen Bewegungen und Basisinitiativen als auch zu Entscheidungsträgern in der Knesset oder anderen Bereichen der Politik pflegen. Entsprechend gehören Anwältinnen, Politikerinnen, Geschäftsfrauen, Geschlechterforscherinnen und auch Künstler­innen zu unserem Netzwerks.

»Es ist unglaublich, dass die Regierungskoalition in der Knesset geschlossen gegen die Einrichtung einer parlamentarischen Untersuchungskommission zu häuslicher Gewalt gestimmt hat – aus Fraktionszwang, schlicht weil die Initiative von der Opposition kam. Nachdem wir auf die Straße gegangen sind, warten wir nun auf weitere Schritte der Regierung.«

Welche Arbeitsschwerpunkte hat das IWN?
Eines unserer Projekte richtet sich zum Beispiel gegen die Geschlechterungerechtigkeit auf dem israelischen Arbeits­markt. Denn auch in Israel herrscht noch immer eine traditionalistische Auffassung vor, wonach »unsichtbare Arbeit« in der ­Familie und im Haushalt nicht gleich aufgeteilt wird, sondern vor allem von den Frauen zu leisten ist. Dadurch werden Frauen in prekäre ­Arbeitsverhältnisse getrieben, was dann auch Kon­sequenzen für die Altersabsicherung hat. Zudem ist der durchschnittliche Monatsverdienst von Frauen um 20 Prozent geringer als der von Männern. Mit unserem Projekt möchten wir Druck auf politische Entscheidungsträger ausüben und die Öffentlichkeit für die Geschlechterungerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt sensibilisieren, von deren Abschaffung sowohl Frauen als auch Männer profitieren würden. In diesem Rahmen haben wir auch eine Studie zu frühkindlicher Erziehung und Care-Politik veröffentlicht.

In welchen weiteren Bereichen ist das IWN tätig?
Ein anderes wichtiges Projekt ist die Telefon-Hotline zum Arbeitsrecht. Unser Expertinnen-Team bietet kosten­lose Rechtsberatung an und bei Präzedenzfällen auch anwaltliche Vertretung. Im Rahmen der Hotline haben wir seit Oktober 2017 auch ein spezielles Angebot für ultraorthodoxe Frauen geschaffen. Damit wollen wir auch ihnen dabei zu helfen, fair und nach geltendem Recht bezahlt zu werden. In der ultraorthodoxen Bevölkerung sind es häufig gerade die Frauen, die neben Kindererziehung und Haushalt noch Lohnarbeit verrichten – während ihre Männer sich dem religiösen Studium widmen. Niedriglöhne, Teilzeitbeschäftigungen und ausbeuterische Arbeitsverhältnisse sind bei diesen Frauen sehr verbreitet. Dass unsere Beratung stark in Anspruch genommen wird, zeigt, wie wichtig es ist, zielgruppenorientiert ­gegen die Geschlechterungerechtigkeit vorzugehen. Im Moment arbeiten wir daran, auch ein spezielles Beratungsangebot für arabische Arbeitnehmer­innen zu schaffen.

Sie sagten, das IWN arbeite auch eng mit der Knesset, dem israelischen Parlament, zusammen.
In der Tat. Das IWN betreibt ein Moni­toring von Gesetzen und parlamentarischen Aktivitäten, die Auswirkungen auf Frauenrechte haben. Dabei zeigen wir auch auf, dass manche politischen Entscheidungen, die auf den ersten Blick scheinbar nichts mit den Geschlechterbeziehungen zu tun haben, dennoch unterschiedliche Auswirkungen auf Frauen und Männer haben können. In den Ausschüssen der Knesset initiieren unsere Repräsentantinnen dann entsprechende Diskussionen und nehmen auch daran teil. Als überparteiliche ­Organisation haben wir Vertreterinnen sowohl in der regierenden Likud-Partei als auch in der Opposition. Bei den beiden ultraorthodoxen Koalitionspartnern des Likud ist das nicht möglich: Denn sowohl bei der Shas-Partei als auch beim Parteienzusammenschluss Vereinigtes Thora-Judentum sind Frauen als Mitglieder gar nicht zugelassen. Wogegen sich übrigens auch immer mehr ultraorthodoxe Frauen wehren.

Wie schätzen Sie die Durchsetzung von Frauenrechten in der ultraorthodoxen Bevölkerungsgruppe ein?
In den vergangenen Jahren beobachten wir besorgt, wie die Exklusion von Frauen in der ultraorthodoxen Bevölkerungsgruppe von der Regierung immer häufiger geduldet wird. Das betrifft etwa die Segregation in Bussen, medizinischen Einrichtungen, in der Armee, auf Friedhöfen oder im Bildungssystem. Wenn etwa an Colleges und Universitäten für ultraorthodoxe Männer und Frauen separate Klassen, Bibliotheks- oder Essenszeiten in der Cafeteria eingeführt werden, dann setzen wir uns dafür ein, dass diese Geschlechtertrennung nicht durch Steuergelder unterstützt wird. Außerdem besteht hier die Gefahr der Schaffung von Präzedenzfällen, so dass bestimmte Entwicklungen sich nicht oder nur noch sehr schwer rückgängig machen lassen.
Wollen denn überhaupt viele Ha­redim, Ultraorthodoxe, an Universitäten und Colleges studieren?
Das betrifft etwa die Hälfte der Ultraorthodoxen. Aber wenn sich sie sich dafür entscheiden, dann sollte die Geschlechtertrennung unserer Auffassung nach nicht vorgegeben sein. Denn auch bei den Haredim gibt es keine einheitliche Haltung zu diesen Fragen. Wichtig ist dem IWN deshalb, auch mit ultraorthodoxen Frauen zusammenzuarbeiten und sie beim Einsatz für ihre Menschenrechte als Frauen zu unterstützen.

Für Angelegenheiten des Personenstandsrechts sind in Israel das orthodoxe Rabbinat beziehungsweise dessen nichtjüdische Pendants zuständig. Eine zivile Eheschließung oder Scheidung gibt daher es nicht. Ist die Einführung der Zivilehe auch ein Anliegen des IWN?
Absolut. Jedoch ist die Einführung der Zivilehe sehr, sehr schwierig zu erreichen. Denn jede Regierung ist auf eine Koalition mit den Haredim angewiesen. Egal, ob die Ultraorthodoxen mit dem Likud oder anderen Parteien ko­alieren, ist eine ihrer Kernbedingungen dafür die Aufrechterhaltung der Macht des Rabbinats. Der Staat erkennt zwar im Ausland geschlossene Zivilehen an, eine vollständige Scheidung kann jedoch nur durch ein religiöses Gericht erwirkt werden – und die urteilen häufig nicht zum Wohl der Frauen. Durch die Verantwortlichkeit des Rabbinats in Angelegenheiten des Personenstandsrechts werden übrigens nicht nur Frauen diskriminiert. Wer etwa nur einen jüdischen Vater oder väterlicherseits nur einen jüdischen Großelternteil hat, darf zwar Israeli werden, muss für eine Heirat in Israel aber nach ortho­doxen Regeln zum Judentum konvertieren. Auch diese Regelung trägt der Vielfalt jüdischer Identitäten nicht Rechnung.

Anfang Dezember gab es angesichts der stark gestiegenen offiziell re­gistrierten Zahl von Fällen von Gewalt gegen Frauen in ganz Israel große Demonstrationen. Wie blicken Sie auf die Proteste?
2018 sind in Israel bisher 24 Frauen getötet worden – nur weil sie Frauen waren. Dagegen und gegen die Passivität der Regierung richtete sich die breite Protestbewegung. Als eine unter den insgesamt über 50 Organisationen war das IWN natürlich auch an diesem ­historischen Moment beteiligt. Über 30 000 Israelis sind landesweit und unabhängig von ihrer sozialen, religiösen oder ethnischen Herkunft auf die Straße gegangen. Da viele Menschen für die Proteste sogar ihre Arbeit niedergelegt haben, hat das IWN seine Hotline auch für die Beratung zum Streikrecht geöffnet.

Welche Forderungen vertritt die Protestbewegung?
Wir sind aufgestanden, weil wir Antworten verlangen: wegen inkompetent geführter Verfahren und mangelnder Strafverfolgung, wegen der Zurückweisung von Frauen, die Opfer von Gewalt wurden, durch Meldestellen, wegen der nicht vorhandenen Auseinandersetzung mit den Ursachen der Gewalttätigkeit von Männern und wegen des weitgehendem Herunterspielens und der Ignoranz gegenüber der lebensbedrohlichen Gewalt gegen Frauen. Wir Frauen stellen 50,6 Prozent der Bevölkerung und werden es nicht dulden, dass wir Opfer von Gewalt werden und die Regierung keine Gegenmaßnahmen ergreift.

Zur Kontextualisierung: Wie viele Frauen sind in Israel von der Gewalt betroffen?
Täglich werden knapp 50 Verfahren wegen häuslicher Gewalt eröffnet – von denen aber etwa 90 Prozent wegen »mangelnder Beweise« wieder geschlossen werden. Über 200 000 Frauen sind in Israel Opfer von misogyner Gewalt, von denen aber nur 13000 von der Polizei und den Wohlfahrtsein­richtungen geschützt werden.

Im Juni 2017 hatte die Regierung zwar einen Aktionsplan zur besseren Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen ver­abschiedet. Aber von den für einen Zeitraum von fünf Jahren genehmigten 250 Millionen Schekel sind erst weniger als zehn Prozent ausgegeben worden. Es ist unglaublich, dass die Regierungskoalition in der Knesset geschlossen gegen die Einrichtung einer parlamentarischen Untersuchungskommission zu häuslicher Gewalt gestimmt hat – aus Fraktionszwang, schlicht weil die Initiative von der Opposition kam. Nachdem wir auf die Straße gegangen sind, warten wir nun auf weitere Schritte der Regierung. Im April finden die nächsten Parlamentswahlen statt – wir werden uns dafür einsetzen, dass Frauenrechte in Zukunft mehr Gewicht erlangen.