Charlie Hebdo ist eines der großen Themen des Bücherfrühlings in Frankreich

Die Geister von Paris

Über »Charlie Hebdo« wird weiter gestritten. Das Satiremagazin ist eines der großen Themen des Bücherfrühlings in Frankreich.

Vom »Geist des 11.  Januar«, benannt nach dem Datum des Trauermarschs nach dem Attentat auf die Redaktion von Charlie Hebdo, ist im politischen Alltag längst nichts mehr zu spüren, doch die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Satireblatt dauert an. Rund 40 neue Bücher beschäftigen sich mit dem Thema, darunter auch Comicbände wie der des Zeichners von Charlie Hebdo, Rénald Luzier (Luz). Der Band mit dem Titel »Katharsis« erscheint am 21. Mai. Mehrere Comicbücher versammeln Zeichnungen oder Texte der ermordeten Karikaturisten. Viel beachtet werden natürlich das Buch des ermordeten Chefredakteurs Stéphane Charbonnier (Charb) und das des ebenfalls erschossenen Wirtschaftsspezialisten der Redaktion, des Linkskeynesianers Bernard Maris. Auch überlebende Redaktionsmitglieder haben Bücher ­geschrieben, so der Arzt, Kritiker des gegenwärtigen Gesundheitssystems und Mitarbeiter der Zeitung, Patrick Pelloux.
Aber auch die Gegner von Charlie Hebdo melden sich zu Wort. Am polemischsten ist ohne Zweifel das Buch »Qui est Charlie? (»Wer ist Charlie?«) aus der Feder des Anthropologen Emmanuel Todd. Sein Titel spielt einerseits auf das im Januar millionenfach plakatierte Bekenntnis »Je suis Charlie« an, andererseits aber auch auf den Titel des populären Kinderbuchs »Où est Charlie?«
Todds Werk wurde in der Tageszeitung Libération unter dem merkwürdigen Titel »Blasphemie wider den Geist des 11. Januar« vorgestellt. Die linksliberale Zeitung ließ den Autor mit ihrem Chefredakteur Laurent Joffrin diskutieren. Joffrin hat gerade ein Buch unter dem Titel »Französisches Erwachen. Ein Plädoyer für die Brüderlichkeit« herausgebracht, das die Massendemonstration im Januar als Beitrag zur Erneuerung der französischen Republik feiert. Ganz anders urteilt Todd, dessen Buch mit Vorabdrucken und Rezensionen in den Medien sehr präsent ist.
Todd mischt seit 20 Jahren in der französischen Politik mit. So unterstützte er unter anderem die letztlich erfolgreichen Präsidentschaftskandidaturen von Jacques Chirac 1995 und François Hollande 2012, um sich dann aber mehr oder minder enttäuscht wieder abzuwenden. Todd hatte zuvor versucht, den Politikern einen Kurs nahe zu legen, den man als »sozialpopulistisch« bezeichnen könnte. Er ist ein energischer Verfechter eines Austritts aus der EU oder zumindest aus dem Euro, er spricht von der Notwendigkeit einer stärkeren Souveränität gegenüber Deutschland und einer neuen Wirtschaftspolitik, bleibt dabei jedoch meist völlig vage.
Untermauert werden diese Forderungen durch anthropologische Erkenntnisse, die stets darauf beruhen, dass er tradierte Familienstrukturen – die historischen Formen der Vererbung etwa, in Gestalt der Übertragung auf einen Alleinerben oder der Erbteilung unter Nachfahren – in französischen Regionen untersucht und aus ihnen politische Schlussfolgerungen für das 20. oder 21. Jahrhundert ableitet. So auch beim Thema Charlie Hebdo.
Schon zuvor hat er die steile These aufgestellt, die französische Sozialdemokratie – die in ihrer heutigen Form erst 1971 aus dem Zusammenschluss mehrerer Kleinparteien gegründet wurde und sich erst danach einen festen politischen Platz in der Parteienlandschaft verschaffte – sei in Südwestfrankreich begründet worden, wo eine der Vorläuferparteien ihre Basis hatte. Deswegen sei die Sozialdemokratie durch den Katholizismus beeinflusst, der diese Region geprägt habe. Während man bisher gedacht habe, der Durchbruch der Sozialdemokratie im Südwesten sei ein Einbruch der Linksparteien in katholische Landstriche gewesen, sei es in Wirklichkeit umgekehrt: Der Katholizismus habe die Linke unterwandert. Dadurch erkläre sich, so Todd, unter Verweis auf François Hollandes katholische Eltern und Vorfahren, die Versöhnung der Sozialdemokratie mit der sozialen Ungleichheit und dem Neoliberalismus. Todd nannte sein Konzept den »Zombie-Katholizismus«. Ihn sollen Hollande und andere wirtschaftsliberale Sozialdemokraten verkörpern.
Ähnlich grobschlächtig geht er in seinem Buch über den Geist des 11. Januar vor. Todd sieht sich zunächst eine Menge Karten an und unterlegt diese mit historischen Graphiken über Familienstrukturen, Erbformen und konfessionelle Verteilung. Nicht nur er, sondern die meisten Beobachter hatten bereits festgestellt, dass die Mobilisierung im Januar diese Jahres im Allgemeinen in den Mittelklassen und besser ausgebildeten Schichten stärker ausfiel als in den unteren Schichten. Das betrifft Menschen mit und ohne Migrationshintergrund. Diese Beobachtung ist nicht neu. So gab es beispielsweise im ehemaligen Bergbaurevier im nordostfranzösischen Nord-Pas de Calais keine größere Kampagne zugunsten von Charlie Hebdo.
Todd behauptet nun, die Regionen, in denen die Solidarität mit Charlie Hebdo am stärksten ausgeprägt war, seien jene katholisch und konterrevolutionär geprägten Teile Frankreichs, die sich in den Jahren nach 1789 mehrheitlich gegen die Revolution gestellt hätten. Darin liege ein Paradoxon. Dieses wiederum lasse sich nur auflösen, indem man folgende Wahrheit an sich heranlasse: Hier sei es in Wirklichkeit gar nicht um Aufklärung, Religionskritik oder Blasphemie gegangen, sondern um die Freiheit, die Religion der »Anderen« und die sozial schlechter gestellte muslimischen Bevölkerung zu diffamieren. Von noblen Absichten also keine Spur.
Die empirischen Grundlagen Todds sind allerdings zweifelhaft. So führt er als Beleg an, dass die Demonstrationen in Lyon doppelt so groß gewesen seien wie in Marseille, und zwar gemessen an der Einwohnerzahl. Während Marseille die Französische Revolution unterstützt hatte, galt Lyon 1793 als konterrevolutionär und war später eine Hochburg der Kollaboration, allerdings auch der Résistance. In Marseille gab es jedoch nach dem Attentat auf Charlie Hebdo zwei Demonstrationen, eine bürgerliche und eine linke, die annähernd gleich stark waren. Diesen Umstand berücksichtigt Todd nicht.
Kontrovers wurde über Charlie Hebdo auch in den USA diskutiert, nachdem bekannt geworden war, dass die Satirezeitschrift vom amerikanischen PEN mit einem Preis für Mut und Meinungsfreiheit ausgezeichnet wird. Gary Trudeau, Zeichner der bekannten Serie »Doonesbury«, hatte der französischen Zeitung im New Yorker den Missbrauch von Satire vorgeworfen, da sie die benachteiligte muslimische Minderheit angreife. Ihm antwortete Ross Douthat im Magazin The Atlantic, der das Argument eines Machtgefälles zu Ungunsten der Muslime nicht gelten lassen wollte. Er betont, dass Terroristen oder islamistische Regimes durchaus Machthabende seien.
»Malaise dans l’inculture (»Unbehagen in der Kulturlosigkeit«) lautet der Titel des neuen Buchs von Philippe Val, der bis 2009 Chefredakteur bei Charlie Hebdo war. Er hatte das Blatt verlassen, um als Chef von Radio France Kar­riere zu machen. Val beschäftigt sich in seinem Buch allerdings nicht mit Charlie Hebdo, sondern schimpft gegen die Soziologie, die alle Fehlhandlungen des Individuums entschuldige und die Verantwortung stets bei der Gesellschaft suche. Die Soziologie sowie die »Faszination für die fremde Kultur« des Islam seien für die Probleme in der französischen Gesellschaft verantwortlich. Bei Val wird die Abgrenzung vom Islam tatsächlich zur Obsession. So fühlt er im »Museum für Mittelmeerkulturen« in Marseille ein Unbehagen beim Betrachten von Porträts von Kopftuch tragenden Frauen. Val repräsentiert die Zeitschrift längst nicht mehr. Die Redaktion verwahrte sich zu Jahresbeginn gegen den Vorschlag seiner Rückkehr als Chefredakteur.
Der prominenteste überlebende Zeichner der Zeitung, Luz, verkündete kürzlich in einem Interview mit der Kulturzeitschrift Les Inrockuptibles, er werde den islamischen Propheten Mohammed nicht mehr zeichnen. Er könne der Figur nichts mehr abgewinnen. Luz wehrte sich zugleich scharf gegen die Anfang des Jahre gemachte Aussage Vals, der schon damals in den Raum stellte, die Terroristen hätten geistig bereits gewonnen. Darin sieht Luz vorauseilenden Defätismus.