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Der Eiserne Vorhang verhinderte nicht, dass Punk im Ostblock ein weiteres Mal erfunden wurde. In »Go Ost!« stellt Alexander Pehlemann die unterschiedlichen Entwicklungslinien der Jugendkultur jenseits der Mauer dar.
Der Kalte Krieg wurde auf vielen Ebenen geführt. Eine von ihnen war immer auch die Kultur, ein Gebiet, auf dem der Osten eine zumeist defensive Position einnahm. Zu überwältigend waren die Verlockungen von Hollywood und Rock ’n’ Roll, von Rolling Stones und Modern Talking. Doch die Jugend des real existierenden Sozialismus eiferte ihren Vorbildern nicht einfach nach, sie ließ häufig etwas Eigenständiges entstehen.
Punk sickerte seit 1977 durch den Eisernen Vorhang und nahm beinahe zwangsläufig eine andere Ausprägung an. Was auch immer in London, New York und Düsseldorf gesungen und geschrieben wurde, in Warschau, Prag und Leningrad musste es anders rezipiert werden. Schließlich war schon das Singen englischsprachiger Texte ein dissidenter Akt. Hinzu kommt, dass sich zum Zeitpunkt, als Punk sich durchsetzte, die Länder des Ostblocks bereits seit mindestens 30 Jahren auf einem musikalischen Sonderweg befanden. Es galt ein eigenes Koordinatensystem für Pop- und Rockmusik, in dem der ungarische Progressive Rock von Omega und Locomotive GT ebenso eine feste Größe war wie der tschechoslowakische Country und die äußerst lebhafte Free-Jazz-Szene der DDR.
Mit »Go Ost!« liefert Alexander Pehlemann einen Überblick über das, was in Osteuropa in Sachen Punk und Postpunk vor sich ging und was schließlich daraus geworden ist. Um eine neutrale Betrachtung geht es ihm nicht. Pehlemann ist ein Fan, auf keiner Seite des Buches macht er aus seiner Begeisterung einen Hehl. Und er ist Teil der Punkszene: Seit 1993 betreibt er das Fanzine Zonic, das sich, wie der Titel bereits andeutet, vor allem dem Osten widmet. 2006 veröffentlichte er gemeinsam mit Roland Galenza »Spannung. Leistung. Widerstand«, ein Buch, das sich mit der Kassettenkultur im Untergrund der DDR befasst.
In einer Mischung aus Reiseberichten, anekdotenhaften Erinnerungsfetzen und einer teilweise aberwitzigen Anhäufung enzyklopädischen Wissens arbeitet er sich durch das Dickicht dessen, was damals Punk und Postpunk genannt wurde. Viele Bands und Künstler mögen fehlen und nicht die Würdigung erhalten, die sie verdient hätten. Bei aller Subjektivität ist die im Buch und der beigefügten CD enthaltene Vielfalt dennoch beeindruckend.
Interessant ist beispielsweise, dass sich die Staaten des Ostblocks musikalisch unterschiedlich entwickelt haben. In Polen etwa hatten auffällig viele Bands einen ausgeprägten Hang zum Reggae, während in der Tschechoslowakei eher Jazz und in Ungarn die progressiveren und psychedelischeren Teile der Rockmusik einflussreich waren. Viele Bands spielten auch einfach nur mehr oder weniger wilde Rockmusik – zum Punk gezählt werden können sie dennoch. Allerdings weniger aus stilistischen Gründen als aufgrund ihrer Attitüde.
Dabei war Punk damals ein offenes Konzept. Die einzige Gemeinsamkeit bildete ein diffuses Dagegensein, das von einigen eher musikalisch, von anderen inhaltlich zum Ausdruck gebracht wurde. Dass in Polen viele Bands von staatlichen Plattenlabels veröffentlicht wurden, mag auf den ersten Blick verwundern. Es ist jedoch durchaus folgerichtig. Die »unruhevolle Jugend«, wie Feeling B sie nannte, war nicht mehr ohne weiteres auf Linie zu bringen. Ausgewählte Lizenzpressungen und von der Zensur überwachte Veröffentlichungen sollten sie bei der Stange halten und so verhindern, dass sich ein Untergrund jenseits staatlicher Kontrolle entwickeln konnte. Ein Vorhaben, das von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Selbst in der DDR ließ man kurz vor ihrem Ende noch die sogenannten »anderen Bands« wie Sandow, Die Skeptiker oder Feeling B in die staatlichen Aufnahmestudios und brachte einige ihrer Platten auf dem volkseigenen Label Amiga heraus.
Die Gründe für die Ablehnung des Bestehenden waren vielfältig. Bei den einen war es Intuition, ein Bauchgefühl. Andere blickten sehnsüchtig nach Westen, hatten tatsächlich anarchistische Ideale oder Hoffnungen auf einen besseren Sozialismus. Aber es fanden sich im Punk genauso regressive Tendenzen. Dass einige Punk-Pioniere des Ostblocks sich im Laufe der Jahre zu Rechtsextremisten entwickelten, ist kaum verwunderlich. So etwa der 2008 verstorbene Jegor Letow von der Omsker Punklegende Graschdanskaja Oborona, der in den neunziger Jahren zeitweise führendes Mitglied der Nationalbolschewistischen Partei Eduard Limonows war. Oder Feró Nagy, dessen Bands Beatrice und Bikini zumindest für kurze Zeit der Punkszene zuzurechnen waren. Nagy engagierte sich später in der Ungarischen Wahrheits- und Lebenspartei (MIÉP), deren zentrales Ziel die Revision des Vertrags von Trianon war und die schließlich gemeinsam mit der Jobbik kandidierte. 2005 gelang ihm dann das Kunststück, mit Beatrice sowohl beim Budapester Sziget-Festival als auch bei dessen nationalistischem Gegenstück, dem Magyar-Sziget, aufzutreten. Mag der Werdegang einiger Pioniere auch bedauerlich sein, viele Künstler schufen in den Jahren des Umbruchs interessante musikalische Zeugnisse einer ganzen Generation, die im Kampf der Systeme zwischen die Fronten geraten war.
Wie unterschiedlich die systemkritische Jugend auf die plötzliche Ungewissheit reagierte, kann auch »Go Ost!« nur andeuten. Dass Pehlemann selbst, der 1989 zur einen Hälfte Punk, zur anderen Offiziersanwärter bei der NVA war, diese Ungewissheit am eigenen Leib erfahren hat, ist seinem Buch anzumerken. Der persönlich gehaltene Stil macht die Zeitgeschichte auf direktere Weise nachvollziehbar, als es der Versuch einer musikhistorischen Gesamtdarstellung schaffen könnte. Erweitert wird der Blickwinkel noch durch die Listen persönlicher Lieblingsplatten aus dem Osten, die unter anderem von Felix Kubin und Luk Haas, dem Betreiber des auf Punk-Exotica spezialisierten Labels TAM89 Records, beigesteuert wurden.
Pehlemann zeigt nicht nur, dass der Osten schon früh Teil der Punk-Welt gewesen ist. Er macht auch deutlich, dass keineswegs nur der Westen den Osten beeinflusste. Viele der jungen Bands und Künstler zwischen Danzig und Sofia hatten durchaus etwas zu bieten, das jenseits der Grenzen des Realsozialismus von Belang war. Frühe Artikel in der deutschen Sounds und dem britischen NME deuten darauf hin, dass man dem, was im Osten vor sich ging, sehr wohl Beachtung schenkte. So wie es auch Pehlemann tut, der mit »Go Ost!« einen kenntnisreichen Einblick in die Geschichte eines Musikgenres gibt, dem bislang viel zu wenig Beachtung geschenkt wurde.
Alexander Pehlemann: Go Ost! Klang – Zeit – Raum. Reisen in die Subkultur-Zonen Osteuropas. Ventil-Verlag, Mainz 2014, 224 Seiten, 24,90 Euro