Koran und Kapital

Iran 20 Jahre nach der "Revolution": Die "islamische Wirtschaft" hat sich als kapitalistische Entwicklungsdiktatur entpuppt

Als Anfang 1979 die Militärmonarchie des Schah vor Massendemonstrationen und einem politischen Generalstreik kapitulieren mußte, hatten Freunde und Feinde des neuen Regimes gleichermaßen falsche Erwartungen. Viele westliche Analytiker hielten die Islamisten für unfähig, ein funktionierendes Staatswesen aufzubauen; andere fürchteten, sie könnten ihre Revolution in andere Länder der Region "exportieren". Einige Strömungen der Linken inner- und außerhalb des Iran erklärten - geblendet von der antiwestlichen und sozialpopulistischen Rhetorik des Regimes - Khomeini zum Vertreter eines "nichtkapitalistischen Entwicklungswegs", der Unterstützung verdiene.

Sie alle sollten enttäuscht werden. Die vom neuen Regime als "dritter Weg" jenseits von Kapitalismus und Sozialismus bezeichnete "islamische Wirtschaft" entpuppte sich als kapitalistische Entwicklungsdiktatur. Der islamistische Internationalismus mündete in eine regionale Machtpolitik, und an der Abhängigkeit von der Ölwirtschaft hat sich nichts geändert.

Andererseits gelang es den Islamisten, die Schah-Monarchie abzuschaffen, blutige Mächtkämpfe zumindest innerhalb des herrschenden Establishments zu vermeiden und sich sogar als begrenzt reformfähig zu erweisen. Und obwohl die Hoffnungen der iranischen Bevölkerung auf ein besseres Leben enttäuscht wurden - nach den Maßstäben des IWF und des Neoliberalismus war die iranische Wirtschaftspolitik recht erfolgreich, wenn man die denkbar schlechten Ausgangsbedingungen berücksichtigt.

Zu den üblichen Revolutionswirren kamen westliche Sanktionen, der Krieg mit dem Irak (1980 bis 1988) und ein beständig fallender Ölpreis. Die schahtreue Bourgeoisie hatte größtenteils das Land verlassen, mit ihr waren Hunderttausende Fachkräfte geflohen. Staatliche Wirtschaftslenkung war in den ersten Jahren nach der Revolution eine schlichte Notwendigkeit, um die Produktion aufrechtzuerhalten und der Kapitalflucht Einhalt zu gebieten. Zudem dominierten in der Führung zunächst linksislamistische Kräfte, die ein staatskapitalistisches System und soziale Umverteilung anstrebten. Zur revolutionären Koalition gehörte jedoch auch die Mehrheit des Groß- und Kleinbürgertums, die unter dem Schah-Regime - damals kontrollierte eine Hofbourgeoisie von 45 Familien 85 Prozent aller Großbetriebe - benachteiligt war.

Zwischen den modernen Mittelschichten, denen ein starker staatlicher Sektor Arbeitsplätze und sozialen Aufstieg versprach, und dem Bürgertum, das im Rahmen der Kriegswirtschaft starke Einschränkungen hinnehmen mußte, entbrannte ein Machtkampf. Beide Seiten konnten sich gleichermaßen auf die in sozialer Hinsicht sehr schwammige islamistische Ideologie berufen. Der Islamismus propagiert ein dem kapitalistischen Sozialstaat ähnliches Modell, wobei umstritten ist, ob die soziale Absicherung allein aus Almosen bezahlt werden oder das Bürgertum zugunsten der unteren Klassen hoch besteuert werden soll. Auch Khomeinis Position blieb unklar. Er gewann die Massen mit sozialpopulistischen Parolen, verkündete aber zugleich: "Wir versprechen, daß es freies Unternehmertum geben wird, solange es den Islam gibt."

Entschieden wurde der Machtkampf in den Institutionen. Innerhalb weniger Jahre gewann die Handelsbourgeoisie die Kontrolle über den "Wächterrat", ein mit Geistlichen besetztes Kontrollgremium, das vom Parlament erlassene Gesetze widerrufen kann. So gelang es, linksislamistische Initiativen zur Ausweitung des staatlichen Sektors auszubremsen. Das Ergebnis war eine widersprüchliche entwicklungspolitische Linie. Ende der achtziger Jahre hatte sich die konservative Handelsbourgeoisie durchgesetzt, geführt von Hashemi Rafsanjani, der als Großhändler und Geistlicher das Bündnis von Moschee und Bazar in seiner Person verkörpert.

1989 - das Pro-Kopf-Einkommen war seit der Revolution um mehr als 45 Prozent gesunken - wurde Rafsanjani Präsident, und Khamenei trat die Nachfolge des 1989 verstorbenen Khomeini als eigentlicher Staatschef an. Da die neue Führung sowohl die religiösen als auch die republikanischen Institutionen beherrschte, gelang es ihr, die Linksislamisten aus allen wichtigen Positionen zu verdrängen. Die neue Wirtschaftspolitik - Privatisierung von Staatsbetrieben, Erleichterung ausländischer Investitionen, Einrichtung von Freihandelszonen, Abwertung des Rial, Deregulierung des Handels, der Preise und der Finanzmärkte - entsprach den Rezepten des IWF. Es galt auch nicht mehr als gottlos, sich im westlichen Ausland zu verschulden. Jelal al-Din Farsi, einer der Propagandisten Rafsanjanis, faßte die neue Linie so zusammen: "Die Parole 'Bereichert Euch' wird vom Koran nicht verboten."

Über die Privatisierung konnte ein Teil des gehorteten Kapitals aktiviert werden, und in den neunziger Jahren lagen die Wachstumsraten der Wirtschaft zwischen drei und acht Prozent. In einigen Jahren gab es Probleme mit dem Schuldendienst, doch 1996 beurteilte der IWF die Aussichten der iranischen Wirtschaft positiv, und westliche Banken stufen das Land als kreditwürdig ein. Der Sparkurs auf Kosten der unteren Bevölkerungsschichten führte allerdings zu sozialen Protesten.

Die sozialen Unterschiede sind heute größer als zur Zeit des Schah. Die Inflationsrate schwankt zwischen 30 und über 50 Prozent, nach inoffiziellen Schätzungen sind bis zu 40 Prozent der Bevölkerung arbeitslos oder unterbeschäftigt. Das Netzwerk der Moscheen bietet durch die Verteilung von Almosen eine minimale Absicherung, mit der sich die Kürzung der Subventionen für Grundnahrungsmittel jedoch nicht auffangen läßt. 1991 und 1992 kam es

zu einer ersten großen Welle illegaler Streiks. Immer wieder gibt es Unruhen und städtische Aufstände gegen den sinkenden Lebensstandard, die Inflation und die mangelnde Versorgung mit subventionierten Waren. Zwischen Dezember 1996 und Februar 1997 streikten die Arbeiter in 30 Großbetrieben, unter anderem in der wichtigsten Ölraffinerie des Landes. Anders als in früheren Jahren gab es eine Koordination zwischen den Betrieben, die Organisierung unabhängiger Gewerkschaften hat der Repressionsapparat bisher verhindern können.

Akut gefährdet ist die islamistische Herrschaft nicht. Da das Regime wegen der fallenden Ölpreise die Steuern erhöht und die Subventionen weiter senkt, könnten die sozialen Proteste jedoch zunehmen. In den neunziger Jahren lagen die jährlichen Öleinnahmen bei 13 bis 16 Milliarden Dollar, was etwa dem Haushalt der Bundesländer Hamburg und Bremen entspricht.

Von sagenhaftem Ölreichtum konnte nie die Rede sein, immerhin gab die Verfügung über die Öleinnahmen dem Staat die Möglichkeit, die soziale Unzufriedenheit in Grenzen zu halten. 1998 brachte der Ölexport nur noch etwa zehn Milliarden Dollar ein, und wenn nicht ein dritter Golfkrieg die Preise hochtreibt, wird es in diesem Jahr noch weit weniger sein.

Damit hat das Regime weniger Möglichkeiten, den privaten Sektor zu lenken. Daß bei den Wahlen 1997 mit Khatami ein Kandidat antreten durfte, der größere Freiheiten und eine Öffnung zum Westen versprach, deutet auf ein größeres Gewicht der weltmarktorientierten Bourgeoisie hin. Gegen sie steht jener Teil des Bürgertums, der sich auf dem Weltmarkt nicht behaupten könnte und die islamistische Rechte unterstützt. Der öffentlichen Unterstützung, die Khatami mobilisieren kann, setzt sie ihre Übermacht in den Institutionen entgegen.

Auch die islamistische "Rechte" will die kapitalistische Modernisierung, will aber deren unerwünschte gesellschaftliche Folgen allein mit Propaganda und Repression bekämpfen. Das gleicht dem Versuch, einen Menschen zugleich zu erdrosseln und künstlich zu beatmen. Die ökonomischen Notwendigkeiten wirken für Khatami. In politischer Hinsicht allerdings könnten seine Gegner recht behalten, die befürchten, daß sich die politische und soziale Unzufriedenheit auf Dauer nicht durch die begrenzte Liberalisierung kanalisieren läßt.