Trennkostwunder in Neukölln

Karstadt am Hermannplatz baut um und mischt den Bezirk auf. Eine Art Pilotprojekt

Wann immer der Neuköllner nichts zu tun hat, kommt er auf blöde Gedanken. Extrem bissige Hunde ohne Leine herumlaufen zu lassen, etwa, betrunken Auto zu fahren, zu randalieren, Zigarettenautomaten zu knacken oder einfach nur an Imbißbuden herumzustehen und zu pöbeln. Dummerweise haben Neuköllner nur selten etwas zu tun.

Die Neuköllner sinnvoll zu beschäftigen, war die Intention eines vor mehreren Jahren gestarteten Pilotprojekts, bei dem erstmalig Psychologen, die Polizei und die freie Wirtschaft zusammenarbeiteten. "Unsere damalige Überlegung war, die Freizeit des Neuköllners durchzuorganisieren. Er soll sich ein wenig bewegen, ein bißchen weiterbilden, seine grauen Zellen durch einfache Rätselaufgaben - wir nennen das Gehirnjogging - in Schwung halten und abends so müde sein, daß er nicht mehr auf dumme Gedanken kommt", erklärt die Pychologie-Professorin Sabine Gusek die erste Phase des Großversuches in der Karstadtfiliale am Hermannplatz, die zu den Lieblingsaufenthaltsorten der Kiez-Bewohner gehört.

Das gemeinsam erarbeitete Konzept sah vor, den Kunden unbemerkt sinnvoll zu beschäftigen mit Hilfe des Personals, dem dabei größtmögliche Freiheit gegeben wurde. Alle Karstadt-Angestellten, vom Lehrling in der Abteilung für Damenoberbekleidung bis zum Prokuristen, wurden an dem neuen Projekt beteiligt. Jede Idee wurde daraufhin geprüft, ob sie dem didaktisch-methodischen Plan entsprach und mindestens ein spezielles Lernziel vermittelte. Besonders für Autofahrer, "unsere Sorgenkinder", wie das Karstadt-Personal sie liebevoll nennt, hatte man sich extra viel Mühe gegeben. Ein hübscher Rundkurs führt hinauf zu den Stellflächen. Im Idealfall müßten die Bewegungsmuffel von dort nur ein paar Schritte gehen, um in die Verkaufsräume zu gelangen, in Zusammenarbeit mit einer namhaften Autovermietungsfirma stellt man am Hermannplatz jeden Morgen vor Geschäftsbeginn sicher, daß alle Parkplätze ausgelastet sind.

So wird dem Kunden ohne großen Aufwand ein wenig Bewegung verschafft - verwirrende Numerierungen sorgen überdies für manchen kleinen Extraspaziergang. "Besonders stolz sind wir auf unseren Parkautomaten", sagt Walter Neumann vom Bereich Parklogistik, "es gelang, ihn so gut zu tarnen, daß der Kunde ihn zunächst nicht findet."

Auch in den anderen Abteilungen arbeitet man nach dem einfachen Prinzip: Stelle Dinge immer dorthin, wo sie der Kunde am wenigsten erwartet. Cola-Light-Dosen dürfen niemals bei ihren kalorienhaltigen Schwestern stehen, sondern müssen einen Gang weiter in einer nicht sofort zu öffnenden Kühltruhe verwahrt werden.

So kann man, stellte man fest, sogar mit ganzen Abteilungen verfahren. Wann immer ein Kunde auf der Suche nach Sportkleidung oder -zubehör die Neuköllner Filiale betritt, erwartet ihn eine Überraschung. Die Fachabteilung ist niemals dort, wo er sie vermutet, weil sie ständig im Haus umherwandert. Das führt nicht nur zu viel Bewegung und einer Steigerung der Kommunikationsfähigkeit, sondern auch zu ständig neuen Sinneseindrücken, denn auf der Suche nach den Turnschuhen lernt der Käufer spielerisch auch andere Lebensbereiche wie z.B. Unterhaltungselektronik oder Bastelbedarf kennen.

Andere Abteilungen lassen sich dagegen nur schwer versetzen, aber auch hier wurden pfiffige Lösungen gefunden. Die Fischtheke, die sich geruchsbedingt nicht einfach verbergen läßt, wurde kurzerhand, ebenso wie die Geflügelabteilung, entgegen der Laufrichtung der Kunden aufgestellt. Den zieht es daher zunächst immer an den Gemüsestand. Dort Ware zu verstecken, das erkannten die Verantwortlichen rasch, ist jedoch beinahe aussichtslos.

Nach einigem Grübeln kam man dann aber doch noch auf eine Idee, die ob ihres großen Erfolges rasch überall nachgeahmt wurde: Man vertauschte einfach die Preistafeln. Über den Cox-Orange-Kisten verkündet nun ein Schild den Preis für Eßkastanien, während die Bananen mit den Schnittlauch-Preisen ausgezeichnet sind.

Aber auch hier wird nicht stur am Prinzip festgehalten, manchmal stimmen Preistafeln und Waren auch überein, wie bei den Kartoffeln, deren Sorte jedoch nicht sofort zu erkennen sein darf, kurz entschlossen schrieb man dort das auf den Beuteln Kleingedruckte auf die Preisschilder, so daß der Kunde gezwungen wird, innezuhalten und in aller Ruhe alle Kartoffeltüten nachzulesen. Durch diese gekonnte Abwechslung zwischen rastlosem Sich-bewegen-Müssen und stillem Verweilen werden die Sinne geschärft, Spannungen abgebaut und Möglichkeiten gegeben, das Erlebte in Ruhe zu verarbeiten.

In der Abteilung für Damenoberbekleidung entschied man sich dagegen zu einem Farben-Experiment. Die oft schrill-bunten Modelle für die jugendliche Kundin wurden an die Ränder der Etage verbannt, die Mitte bleibt der Ware für die ältere Dame vorbehalten. So entstand eine "Farbinsel", in der gedeckte Beigetöne dominieren. "Wir wollten ganz bewußt zur Besinnung einladen, einen Ruhepol bieten", erklärt dazu die Chef-Directrice Bianca Neumann.

Sich auf den Erfolgen auszuruhen, ist Sache der Karstädtler jedoch nicht. In einer in der Bundesrepublik bisher einzigartigen Aktion gelang ihnen vor einigen Monaten das Meisterstück: Die Lebensmittelabteilung wurde zweigeteilt. Zwischen beiden Dependancen liegt der "Schnäppchenmarkt", eine bei der Kundschaft sehr beliebte Einrichtung. "Wir haben", so Sabine Gusek, "streng darauf geachtet, daß Dinge, die zusammengehören, nicht in derselben Abteilung zu finden sind. Butter und Brot sind nun durch 100 Meter Luftlinie getrennt - und können nur durch einen Umweg über den Schnäppchenmarkt erreicht werden."

"Der Kunde", so Gusek weiter, "soll lernen, flexibel auf Neues zu reagieren, indem er beispielsweise das Schnäppchenangebot prüft, aber gleichzeitig sein ursprüngliches Ziel, die Butter, nicht aus den Augen zu verlieren."

Die Resonanz ist beeindruckend, Neukölln ist zu einem spürbar entspannteren Bezirk geworden. Die Kriminalitätsrate ist bereits um 250 Prozent gesunken. Nun denkt man daran, die erfolgreiche Neuköllner Idee weltweit zu exportieren.