Der Kommissar geht um

Vor dem EU-Gipfel in Berlin sind die Chancen auf dem europäischen Arbeitsmarkt gestiegen: Zwölf Kommissionsposten sind zu vergeben

Suspendiert hatten sie ihn, seine Bezüge halbiert. Ein "Nestbeschmutzer" sei er, schimpften seine Vorgesetzten und bezeichneten ihn gar als einen "Querulanten" mit einem "paranoiden Verfolgungswahn". Mit der Übergabe eines 34seitigen Dossiers plus 700 Seiten Anhang an die grüne Fraktion im Europaparlament hatte der 41jährige Finanzkontrolleur Paul van Buitenen im Dezember letzten Jahres den Stein ins Rollen gebracht, der letzte Woche die EU-Kommission in den Abgrund stürzte. Nun jubiliert der niederländische EU-Beamte: "Gerade weil ich an die europäische Idee glaube, konnte ich die Günstlingswirtschaft und die Bereicherung einiger EU-Kommissare nicht mehr decken." Daß die selbstherrlichen EU-Kommissare ihn dafür haben abservieren wollen, sei ein "dummer Fehler" gewesen. Das Grünen-Mitglied ist guter Dinge: "Ich rechne damit, meine Arbeit bald wieder aufnehmen zu können."

Seine Chancen auf Wiederbeschäftigung dürften besser stehen als die der Anfang vergangener Woche kollektiv zurückgetretenen Mitglieder der EU-Kommission. Denn der "Erste Bericht über Anschuldigungen betreffend Betrug, Mißmanagement und Nepotismus in der Europäischen Kommission" des vom Europaparlament initiierten "Ausschusses unabhängiger Sachverständiger" stellt den zwanzig obersten Europäern ein schlechtes Zeugnis aus. "Bei seinen zahlreichen Anhörungen hat der Ausschuß festgestellt, daß die Kommissare bisweilen erklärten, sie hätten nicht gewußt, was in ihren Dienststellen geschehe", heißt es dort. "Eindeutige Fälle von Betrug und Korruption" seien daher "auf der Ebene der Kommissare 'unbemerkt'" geblieben.

Die EU-Kommission ist das Exekutivorgan der Europäischen Union. Sie überwacht die Einhaltung von EU-Verträgen und -Richtlinien. Sie ist im Rahmen ihrer Befugnisse unabhängig von den Mitgliedstaaten der EU und besitzt ein Initiativrecht. Der Ministerrat, das Gremium der Regierungen der EU-Mitgliedstaaten, kann nur auf der Basis von Kommissionsvorschlägen Rechtsakte verabschieden. Allerdings kann der Rat, ebenso wie das Europaparlament, die Kommission auffordern, Vorschläge zu erarbeiten.

Die zwanzig Mitglieder der EU-Kommission werden von ihren jeweiligen nationalen Regierungen für fünf Jahre benannt. Dabei entsenden die Bundesrepublik, Frankreich, Großbritannien, Italien und Spanien je zwei Kommissare, die restlichen Länder je einen. Die Kommission bedarf der Bestätigung durch das Parlament, allerdings kann nicht einzelnen Mitgliedern die Zustimmung verweigert werden. Auch kann das Parlament nur der gesamten Kommission das Mißtrauen aussprechen - dazu haben jedoch noch nie in der Geschichte des Europäischen Parlaments die Mehrheiten gereicht. Die Amtszeit der jetzt zurückgetretenen Kommission läuft noch bis Ende dieses Jahres.

Der nun nur noch kommissarisch amtierende Kommissionspräsident Jacques Santer machte für aufgetretene Mängel in der Verwaltung und für unzureichende Ausgabenkontrollen den gerade von der deutschen Bundesregierung forcierten Sparkurs mitverantwortlich. So würden der Kommission immer neue Aufgaben aufgebürdet, jedoch nicht das Personal entsprechend aufgestockt. 17 000 Beamte arbeiten in Brüssel, Luxemburg und etlichen Außenstellen für die EU-Kommission. Abzüglich der rund 6 200 im Übersetzungsdienst und in Forschungsstellen tätigen Mitarbeiter ist die Größe der EU-Behörde mit der eines mittelgroßen Ministeriums in einem der großen Mitgliedstaaten der Europäischen Union vergleichbar.

Die festgestellten Betrügereien und Veruntreuungen bewegen sich allesamt im Bereich der Kavaliersdelikte bürgerlicher Politik. So urteilt denn auch die FAZ zu Recht: "Im Vergleich zu dem, was in den Mitgliedstaaten an Korruption und Betrug vorkommt und an krimineller Energie bei der Zweckentfremdung öffentlicher Mittel - auch aus EU-Kassen - an den Tag gelegt wird, ist das, was sich einzelne Kommissionsmitglieder haben zuschulden kommen lassen, banal." Nicht einmal eine zünftige persönliche Bereicherung konnte den Kommissionsmitgliedern nachgewiesen werden.

Dementsprechend schieben die Mitglieder der EU-Kommission nach ihrem zwangsfreiwilligen Rücktritt Frust. Die Französin Edith Cresson, die seit langem in der Kritik steht und der der Bericht "Günstlingswirtschaft" bescheinigt, sieht sich ungerecht behandelt. Sie glaubt an eine Manipulation des Berichtes. Gegenüber der französischen Tageszeitung Le Figaro erklärte die ehemalige französische Ministerpräsidentin: "Es handelt sich um eine absolute Lüge. Ich weiß nicht, wer dahintersteckt."

In der Bundesrepublik rotiert inzwischen das Personalkarussell. Der frühere Bundeswirtschaftsminister Martin Bangemann (FDP) sollte ohnehin zum Ende des Jahres in den Ruhestand geschickt werden. Aber wer kommt statt ihm? Laut dem rot-grünen Koalitionsvertrag steht der Posten den Grünen zu. Gemäß einer Vereinbarung der damaligen Parteivorsitzenden von CDU und SPD, Helmut Kohl und Rudolf Scharping, die der Sozialdemokratin Monika Wulf-Mathies 1995 die Benennung als EU-Kommissarin durch die schwarz-gelbe Bundesregierung einbrachte, müßte der Job jedoch an einen Christdemokraten gehen. Welche der beiden Absprachen Kanzler Schröder brechen wird, ist noch nicht entschieden.

Innerhalb der Grünen scheint die Berliner Fraktionssprecherin Renate Künast zur Zeit die besten Chancen auf eine Nominierung zu haben. Zur Auswahl steht auch noch Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer. Ebenfalls immer wieder im Gespräch ist die Bundestagsabgeordnete Claudia Roth, die als langjährige Vorsitzende der grünen Europaparlamentsfraktion zwar als bestens qualifiziert, jedoch parteiintern als "zu links" gilt.

Und was ist mit der zweiten EU-Kommissionsstelle, mit Monika Wulf-Mathies? Nach dem Kommissionsrücktritt werden die Karten neu gemischt. Denn auch Wulf-Mathies kommt in dem Bericht des Sachverständigenausschusses nicht gut weg. Daß sie den Ehemann einer alten Schulfreundin als persönlichen Mitarbeiter eingestellt hat, könnte für einen Karriereknick reichen.

Die besten Chancen auf den EU-Kommissionsvorsitz besitzt derzeit Romano Prodi - jedenfalls dann, wenn die europäischen Internet-User zu entscheiden hätten. Bei ihnen liegt zur Zeit der ehemalige italienische Ministerpräsident mit 24,56 Prozent der Stimmen knapp vor dem belgischen Sozialisten und bisherigen EU-Wettbewerbskommissar Karel van Miert mit 22,81 Prozent - und vor Oskar Lafontaine (10,53 Prozent).

Immerhin hat bereits der Europapolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag, Norbert Wieczorek, für einen deutschen Kommissionspräsidenten plädiert. Und hat nicht schließlich auch Gerhard Schröder nach dem Ausstieg des Napoleons von der Saar vieldeutig erklärt: "Ich bin ziemlich sicher, daß mit der Entscheidung Oskar Lafontaines, sich aus der Politik zurückzuziehen in Deutschland, keine Entscheidung verbunden ist, mit der Politik auf irgendeinem anderen Feld zu beginnen"?