Millennium-Countdown IV

Schmutziges Schmuckstück

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Manche Erlebnisse kann man einfach nie vergessen. »Eine der schlimmsten Stuttgarter Nächte seit dem Zweiten Weltkriege«, schrieb etwa Martin Hohnecker, Chefkommentator im Lokalteil der Stuttgarter Zeitung, über seine Eindrücke. Ähnlich fühlt sich auch Ingelore Behrend, Feuerbach, an die schweren Zeiten erinnert: »Als geborene Stuttgarterin, die während des Krieges die schrecklichen Bombennächte und Zerstörungen sowie den mühsamen Wiederaufbau miterlebt hat, habe ich kein Verständnis für solche ausufernden Spektakel.« Und Jürgen und Susanne Daur, Wolfbusch, warnen vor gefährlicher »Schönfärberei«. Das schwäbische Srebrenica hat also, daran lässt auch Jutta-Beate Schmidt, Botnang, keinen Zweifel, bei den Bürgerinnen und Bürgern der Schwaben-Hauptstadt »fast nicht wieder gut zu machende Spuren« hinterlassen. Folgerichtig fordert Wirtschaftsbürgermeister Dieter Blessing: »Wir müssen Konsequenzen ziehen.«

Aber es lohnt wohl, zunächst einen Blick auf den Ort des grausamen Geschehens zu werfen. Mittlerweile hat sich die Lage entspannt. An diesem etwas zu frühen Frühlingstag in der vergangenen Woche tummeln sich die Menschen ganz unbeschwert auf dem Schlossplatz, dem geografischen Mittelpunkt der Stuttgarter Innenstadt. Punks, Touristen und Mütter mit ihren Kinderwägen sitzen rund um das Denkmal, das die Stände Württembergs dem treuesten Freunde des Volkes, Koenig Wilhelm, am XXX October MDCCCXCI zum XXV Jaehrigen Regierungsjubilaeum geschenkt hatten (was natürlich keiner weiß und keinen interessiert). Auch die ersten Tische der Cafés stehen bereits wieder auf der Straße, Polizeibeamte flanieren mit Kauflustigen um die Wette, und mit etwas Glück kann man sogar ein Stückchen Unrat entdecken, das sich den Papierkörben entziehen konnte. Ein regelrecht ausgelassener Tag also, und nichts, aber auch gar nichts erinnert an jene grausame Nacht, deren Bewältigung seit sechs Wochen die Gemüter erhitzt. Aber hier weiß jeder: So etwas darf nie wieder passieren. Nie wieder!

Was eigentlich geschehen war? Beginnen wir mit einer knappen Bilanz: »Zertrampelte Stiefmütterchen, zerwühlte Beete, zerstörter Rasen«, ein eingeschlagenes Schaufenster, eine zerstörte Vitrine und 35 Tonnen Müll registrierte die Stuttgarter Zeitung am Tag danach. 35 Tonnen! Verantwortlich: »Dunkelheit, Alkohol und ein schier unbegrenztes Reservoir an Sprengstoff«, wie Kommentator Hohnecker weiß. Man - genau genommen der städtische Marktbetrieb VMS - hatte zur großen Millenniumsparty geladen. Auf den Schlossplatz. Und das auch noch mit Steuergeldern. Ganz umsonst durfte also der Live-Musik gelauscht werden. Das Ergebnis: Etwa 100 000 waren gekommen, haben getanzt, gefeiert, gesoffen, gepisst und gekotzt, was das Zeug hält. Wie eben gemeinhin an jedem Ort der Welt an Silvester üblich.

Weil aber in einer Demokratie nicht jeder tanzen, feiern, saufen, pissen und kotzen darf, wann und wo er will, dafür aber leider jeder alles sagen und schreiben kann, wann und wie er will, füllt die schwäbische Empörung seit sechs Wochen die Leserbriefseiten der örtlichen Presse. »Wir« brauchen nämlich »in der Stadtmitte keine 'Love Parade' oder ähnliche Veranstaltungen. Die prägen schon das Image von Berlin. Und für den Rummel haben wir den Cannstatter Wasen. Dort können Chaoten unter sich sein und müssen nicht Bürger provozieren, belästigen und sogar gesundheitlichen Schäden und Gefahren aussetzen«, meint etwa Georg Schmid, Stuttgart-Ost. Und Barbara Spieth, Sillenbuch, findet, dass mit »Frühlingsfest, Volksfest, Weindorf, Hocketsen, Weihnachtsmarkt etc.« genug fürs gesellschaftliche Amusement getan wird. Weitere »Events« - ein Begriff, der seither Einzug in den örtlichen Sprachgebrauch gefunden hat - braucht man in der Schwaben-Metropole nicht.

Dabei könnten solche regelmäßigen Sauereien eine Menge Arbeit sparen. Man denke etwa an den Sommer 1997. Um ins Guinness-Buch der Rekorde zu kommen, hatte Oberbürgermeister Wolfgang Schuster zum »Let's Putz« gerufen. Die Folge: Im kollektiven Putzwahn befreiten mehrere Tausend Freiwillige die Straßen Stuttgarts von allem Unrat. Um tatsächlich zum gewünschten Erfolg zu kommen, musste man zuvor noch genügend Müll auf öffentlichen Plätzen verteilen. Den haben die 100 000 Millenniums-Feiernden jetzt ganz unbürokratisch und pragmatisch einfach liegen lassen.

Und außerdem ist es um die pflanzliche Zierde auf dem Schlossplatz sowieso nicht allzu gut bestellt. Denn seit die Pilgerinnen und Pilger des Evangelischen Kirchentages im vergangenen Sommer mehrere Tonnen Salz der Erde auf dem »Schmuckstück der Landeshauptstadt« (Irmgard Becht, Bad Cannstatt) ausgekippt haben, fällt die Blütezeit der Tulpen, Rosen und Stiefmütterchen ziemlich kurz aus.