Ein Herz für Latinos

Zum ersten Mal dienen Latinos in einem US-Wahlkampf nicht mehr als Schreckgespenst, sondern werden als Wähler umworben. Die Überraschung: Der Republikaner George Bush jr. tut sich dabei besonders hervor.

Die USA sind das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. So kommt es, dass auch eingefleischte Rechtskonservative wie George Bush jr. sich einer Bevölkerungsgruppe an den Hals werfen können, die für seine Parteifreunde bisher nur als kriminelle Drogenhändler und illegale Einwanderer in Erscheinung trat. Bei dem Objekt der Begierde handelt es sich um die wachsende spanischsprachige Minderheit. Cecilia Mu-oz vom Consejo Nacional La Raza, einer Latino-Bürgerrechtskoalition, kommentiert den Traditionsbruch so: »Bush hat das Verdienst, dass er der erste wichtige Republikaner ist, der seine Kampagne nicht damit führt, dass er Müll über den Einwanderern auskippt.«

In der Politik gibt es für jedes Rätsel eine Lösung. Dass Bush jr., trotz Rückschlägen noch immer aussichtsreichster Bewerber für die Präsidentschaftskandidatur der Republikaner, sein Herz für Latinos entdeckt hat, hat mit deren wachsendem Stimmenpotenzial zu tun. Dieses kam bisher fast ausschließlich den Demokraten zugute. Noch 1996, bei den letzten Präsidentschaftswahlen, stimmten 72 Prozent der Latinos für William Clinton, sein republikanischer Konkurrent Robert Dole kam damals auf nur etwa 20 Prozent der Stimmen.

Während bisherige republikanische Präsidentschaftskandidaten mit einem einwanderungsfeindlichen Diskurs ihre traditionelle Wählerschaft in der konservativen weißen Mittelschicht zufriedenstellten, glaubt Bush jr., dass die Stimmen der Latino-Community in verschiedenen Bundesstaaten wahlentscheidend werden könnten. Dabei scheint der amtierende Gouverneur von Texas nicht ganz falsch zu liegen.

Latinos sind auf dem Weg, die zahlenmäßig größte Minderheit in den USA zu werden. Heute leben offiziell 31 Millionen Menschen in den USA, die sich als Latinos definieren - zwölf Prozent der Gesamtbevölkerung. Dazu kommen etwa sechs Millionen Latinos, die über keinen legalen Aufenthaltsstatus verfügen. Allein im größten Bundesstaat Kalifornien ist der Anteil der wahlberechtigten Latinos in den letzten zwanzig Jahren von neun auf 16 Prozent gewachsen. Dort, aber auch in anderen Bundesstaaten wie Florida, Arizona, New Mexico, Texas oder New York, könnten Latinos eine wahlentscheidende Rolle spielen. Insgesamt haben sich sieben Millionen Spanischsprachige in die Wählerverzeichnisse für die Präsidentschaftswahlen eingeschrieben.

Leslie Sánchez vom Wahlkampfstab der Republikaner umreißt die Situation so: »Diese Wahlen sind die ersten in der Geschichte der USA, in denen die Stimmen der Hispanos auf nationaler Ebene aggressiv umworben werden.« Wer nun glaubt, das Tte-ˆ-tte Bushs mit seinen neu gewonnenen Freunden bedeute eine Linkswende, liegt allerdings falsch. Im Gegenteil: Seine Strategie versucht, die in der US-Gesellschaft etablierten Latinos mit einem konservativen Diskurs zu Republikanern zu konvertieren.

Dabei stehen Themen wie die Förderung von Kleinunternehmen, Steuersenkung und eine konservative Familienpolitik im Vordergrund. Gleichzeitig wendet er sich gegen neue »illegale« Einwanderung. Diese wird auch von vielen legalisierten Einwanderern nicht gerne gesehen, weil sie ihren erreichten sozialen Status gefährdet sehen. Bushs Kampagne macht dadurch deutlich, dass die sonst als homogen betrachtete Latino-Community in Wirklichkeit sozial und kulturell stark ausdifferenziert ist.

Der Erfolg scheint Bushs Werben Recht zu geben. Die Washington Post veröffentlichte kürzlich eine Umfrage, nach der Bush als Person unter Latinos mit 43 Prozent Zustimmung mittlerweile ebenso populär ist wie sein aussichtsreichster demokratischer Rivale, Vizepräsident Al Gore. Eine wichtige Rolle spielt dabei auch, dass Bush gutes Spanisch spricht und mit einer Mexikanerin verheiratet ist. Die Umfrage relativiert sich allerdings, wenn es um die Zustimmung zu Parteien geht. Dabei präferieren noch immer 44 Prozent der Latinos die Demokraten und nur 16 Prozent die Republikaner. Der Rest ist noch unentschlossen.

Ein Galan aber bleibt selten allein. Die Nachrichtenagentur AP zitiert einen anonymen hohen Funktionär aus dem Weißen Haus: »Der Präsident persönlich hat erkannt, dass die Latino-Community sich im Liebesspiel mit den Republikanern und Bushs Kandidatur befindet.« Das beunruhigt William Clinton verständlicherweise. So erklärt sich, dass er in den letzten Wochen zur Charme-Offensive ansetzte und sich nun Repräsentanten der Latinos im Weißen Haus die Klinke in die Hand geben. Mal lässt sich Clinton von der traditionsreichen Latino-Organisation Lulac einen Preis für besondere Verdienste verleihen. Mal zeichnete er den mexikanischen Einwanderer Alfred Rascon mit einer Ehrenmedaille für seine Heldentaten in Vietnam aus. Die gegenseitigen Lobeshymnen sollen unter Latinos Sympathiepunkte für Al Gore sammeln, der sich ebenfalls nach Kräften um die Rückgewinnung des Terrains bemüht.

An den Latino-Integrationsversuchen der beiden wichtigsten Bewerber um das Präsidentenamt zeigt sich auf der politischen Ebene, was kulturell und im Alltag in den USA längst deutlich ist: Die wachsende Latino-Community gehört dazu. Besonders sichtbar wird dies am kommerziellen Erfolg von supersexy Latino-Popstars wie Ricky »La vida loca« Martin oder an den Schauspielerinnen Jennifer L-pez und Selma Hayek. Sie setzen eine Entwicklung fort, die mit den Popstars Selena und Gloria Estefans Album »Mi tierra« vor einigen Jahren begann.

Auch im Arbeitsleben ist dieser Trend zu beobachten. Für die jüngste Überraschung sorgte der 13 Millionen Mitglieder zählende Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO. Das Nationale Exekutivkomitee beschloss Mitte Februar, eine Amnestie für die schätzungsweise sechs Millionen Einwanderer ohne Papiere und ein Ende der Sanktionen gegen Unternehmer, welche diese beschäftigen, zu fordern. Überraschend ist das, weil es die Gewerkschafter waren, die vor 15 Jahren genau dieses Verbot durchsetzten. Der Hintergedanke des spektakulären Sinneswandels der Arbeiterfunktionäre ist denkbar einfach: Wenn die Illegalen Papiere hätten, könnten sie von den Unternehmern auch nicht mehr als Lohndrücker eingesetzt werden. John Wilhelm, Präsident der Hotel Employees and Restaurant Employees Union, von deren 250 000 Mitgliedern 75 Prozent Einwanderer sind, meinte: »Die Gewerkschaftsbewegung steht in diesem Land auf Seiten der Einwanderer.«

Aber auch die Bosse scheinen die Einwanderer zu mögen. Unternehmerfunktionär Bruce Josten kommentierte die Entscheidung des AFL-CIO so: »Das ist aus einer Unternehmerperspektive eine willkommene Unterstützung, da wir einen Mangel an Arbeitskräften haben.« Und Lee Colpepper vom Restaurantbesitzerverband forderte sogar: »Dies kann nur ein Schritt in Richtung einer größeren Reform sein.«

Die Freundlichkeit, welche die US-Gesellschaft den Latinos momentan entgegenzubringen scheint, kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch eine dunkle Seite gibt. Abgesehen davon, dass in Teilen der Gesellschaft nach wie vor aggressive einwanderungsfeindliche und rassistische Stimmungen vorherrschen, geht auch die Militarisierung der Grenze nach Mexiko weiter. Demokraten, Republikaner, Gewerkschaften und Unternehmer sind sich darin einig, dass eine weitere Zuwanderung verhindert werden soll.

Und auch George Bushs Liebeswerben kann schnell enttäuscht werden. »Wenn die Demokraten ein Foto finden können, auf dem Bush Pete Wilson umarmt, ist seine Kampagne tot«, meint der Wahlforscher Harry Pachon. Der Republikaner Pete Wilson profilierte sich während seiner Amtszeit als Gouverneur Kaliforniens mit der immigrantenfeindlichen Proposition 187 als rassistischer Hardliner. Ein unerwartetes Resultat dieser Kampagne war, dass sich in Kalifornien besonders viele junge Latinos in die Wählerverzeichnisse eintragen ließen.

Am 7. März, dem super tuesday, finden in Kalifornien, New York und zehn weiteren Bundesstaaten Vorwahlen statt. Danach ist Bush und seine Latino-Kampagne entweder top oder flop.