Houellebecq-Nacht in der Berliner Volksbühne

Lost Highway

Von wegen présence humaine: Die große Houellebecq-Nacht in der Berliner Volksbühne fand ohne den französischen Starautor statt.

Michel Houellebecq ist Lyriker, Romancier, Bestsellerautor, Debattenstar, Gentechexperte, Kettenraucher, Philosoph, Musiker und Beschleunigungstheoretiker. Die Welt, sagt er, ist so eingerichtet, dass sich die Dinge, die Verfahren und die Geschichte immer mehr beschleunigen, und dabei dient »die Gegenwartsarchitektur als Beschleunigungsfaktor der Fortbewegung«. So der Titel seines 1997 im Musikmagazin Les Inrockuptibles erschienenen Aufsatzes. Darin schaut Houellebecq sich die Architektur der Autobahnzubringer und Bahnhöfe auf ihre Funktion hin an, »dem durchschnittlich oder überdurchschnittlich intelligenten, westlichen Menschen die Erreichung seines Reiseziels (zu gestatten)« und »Reibereien, Ungenauigkeiten und verlorene Zeit auf ein Mindestmaß zu reduzieren«.

Vergangenen Freitag arbeitete die Architektur gegen ihn. Lost Highway. Houellebecq geriet auf der Autobahn in einen Stau. Gegen 18 Uhr steckte er noch bei Nürnberg fest. Der Überbringer der schlechten Botschaft wäre von Publikum und Presse mit Sicherheit erschlagen worden, wenn er nicht der Dramaturg Carl Hegemann gewesen wäre. Der rettete sich mit heiter-zerknirschtem »Scheitern-als-Chance«-Charme über die Runden und konnte zu Beginn der Podiumsdiskussion zumindest noch in Aussicht stellen, dass der Stargast gegen Mitternacht womöglich das Konzert anlässlich des Erscheinens seiner ersten CD »Présence Humaine« werde geben können.

Man stehe in engem Handy-Kontakt mit ihm und seiner Frau, die zugesagt hätten, ihrem Toyota Corolla das Letzte abzuverlangen, erwarte stündlich Neuigkeiten von den Houellebecqs, und jetzt warten wir mal, dass er wieder anruft, und fangen schon mal an! Diese merkwürdige Familiarität, die Hegemann zwischen Publikum und dem als scheu und unnahbar geltenden, abwesend-anwesenden Houellebecq herzustellen vermochte, hätte der Star selbst vermutlich nie zustande gebracht. Und außerdem waren ja alle, wie Moderator Hegemann sich freute, sowieso nur »wegen des Themas« gekommen.

Das Thema. Houellebecq arbeitet an der umkämpften Schnittstelle von Literatur und Wissenschaft (und neuerdings Pop). Zwar dominierten im Publikum und bei der Presse die Kulturleute, auf dem Podium allerdings war der von Houellebecq prophezeite gesellschaftliche Paradigmenwechsel - die Entmachtung von Kultur und Sozialwissenschaften durch Technik und Naturwissenschaften - bereits vollzogen. Zwei Naturwissenschaftler und ein Medientheoretiker hatten sich zuständig erklärt, die Diskussion um den Roman »Elementarteilchen« zu führen , und zwar der Biophysiker Thomas Schulte-Herbrueggen und der Zoologe Thomas Weber sowie der Autor, Kurator und Leiter des Zentrums für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe, Peter Weibel.

Die schwindelnden Höhen, in die die Debatte um gentechnische Utopien ansonsten mühelos vorstößt, konnte an diesem Abend niemand erreichen. Die beiden - in Podiumsdiskussionen offensichtlich ungeübten - Naturwissenschaftler rangen um Worte; ihnen war die Rolle der Dürrenmattschen Physiker zugedacht; genethische Bedenkenträger, die die Euphorie des Künstlers über die Potenziale des Artificial Life dämpfen sollten.

Das der Bibel entnommene Diskussionsmotto lautete »Lasset uns Menschen machen«, und Weibel hätte damit wohl am liebsten noch am selben Abend begonnen. Der Biophysiker Schulte-Herbrueggen forderte dagegen Besonnenheit ein, man dürfe die Gen-Debatte nicht den Naturwissenschaftlern überlassen, sie sei gesamtgesellschaftlich zu führen. Houellebecqs »Elementarteilchen« handele nicht zuletzt von den durch den Eros der Erkenntnis angerichteten Verwüstungen. Der Zoologe Weber berief sich auf die Empirie. Die Wissenschaft sei ja gerade dabei herauszufinden, was alles nicht funktioniere, aus einer Ameise lasse sich eben kein Elefant konstruieren, die breche als Makroversion auf ihren dünnen Beinen einfach zusammen.

Peter Weibels Projekt der Rekombination will dagegen auf etwas anderes hinaus; er denkt sich die Riesenameise sozusagen mit Elefantenbeinen. Der Körper ist hier zum Text erklärt, der sich beliebig umschreiben lässt. Die Kunst des 20. Jahrhunderts, so Weibel in seinem Dia-gestützten Vortrag, habe das gentechnische Zeitalter bereits antizipiert. Der anagrammatische Körper bei Karel Teige und Hans Bellmer handele ebenso wie der Kubismus von der Ersatzteil-Chirurgie, dem Cloning und der Kopulation und Rekombination natürlicher und synthetischer Materialien, die die Wissenschaft heute möglich werden lasse. Die Houellebecqsche Utopie ist für ihn die Gegenwart. Das Subjekt habe sich längst von seinem Körper getrennt, niemand sehe im Medienzeitalter mehr ausschließlich mit seinen eigenen Augen, sondern längst durch die der Kamera. Technik bedeute also die »Extension der Organe«. Was allerdings passiert, wenn die Funktionen des Körpers an die Technik delegiert und damit kollektiviert und zentralisiert werden, interessiert den Medientheoretiker nicht.

Mit Houellebecq, mit dem er sich wohl hätte streiten sollen, verbindet Weibel die emphatische Bejahung der gentechnischen Zukunft, allerdings sind die Voraussetzungen bei beiden gänzlich verschieden. Während Houellebecq die Moderne für gescheitert erklärt und sich das gentechnische Zeitalter als Neuanfang und Überwindung der Gegenwart vorstellt, interpretiert Weibel die Gentechnologie als Mittel zur Vollendung des Projekts der Moderne. Suspekt ist ihm beispielsweise das katholisch verdunkelte Verhältnis Houellebecqs zum Sex. Richtig, der Sex sei heute tatsächlich sinnlos geworden, weil von der Reproduktionsarbeit entbunden. Das sei aber doch toll, dass wir diese Aufgaben der Technologie überlassen könnten.

Weibel, Zauberlehrling der Biotech-Industrie, ist der Harry Potter der Zukunftsdebatte. Seine fröhlich-populistische, in einem mitunter schwer verständlichen, aber gemütlich wirkenden Dialekt vorgetragene Science-Fiction absorbierte die Schrecken der Houellebecq-Debatte an diesem alles in allem eher komischen Abend vollständig. Sodass einem der im Stau verloren gegangene Berufspessimist am Ende wirklich fehlte.

Houellebecq hat das Ende von allem Möglichen verkündet, u.a. das Ende der Kunst und der Moderne, des Individualismus und der Ironie. Das uneigentliche Sprechen habe ausgedient, die Literatur der Zukunft sei ernst und pathetisch, nicht lakonisch, sondern lyrisch; eben genauso, wie er seine eigenen Texte verstanden wissen will. Die allerdings wurden auf dieser Veranstaltung, wo irgendwie alles in Anführungszeichen stand, ironisch überschrieben. Von wegen Beschleunigungsfaktor, neue Authentizität und vor allem: von wegen présence humaine.