Massaker in Indien

Brandstifter als Feuerwehr

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»Eine Schande für die Nation« seien die religiösen Konflikte, klagte der indische Premierminister Atal Behari Vajpayee am Samstag. Zu diesem Zeitpunkt war die Zahl der Opfer bereits auf über 400 angestiegen. Und obwohl die Armee mittlerweile Truppen entsandt hatte, gingen die Massaker fast unbehindert weiter. Erst am Sonntag kehrte in den Städten der Provinz Gujarat langsam Ruhe ein, während aus den Dörfern neue Lynchmorde gemeldet wurden.

Es seien nicht sofort Truppeneinheiten verfügbar gewesen, behauptete die Regierung. Doch in Gujarat, das an Pakistan grenzt, mangelte es sicher nicht an Soldaten. »Die verspätete Antwort scheint beabsichtigt«, kommentierte die Times of India, die Regierung habe den Hindu-Extremisten Zeit für Racheaktionen geben wollen.

Ausgelöst wurde das Morden durch einen Angriff auf Aktivisten des rechtsextremen Weltrats der Hindus (VHP) und ihre Familien. Mehr als 1 500 muslimische Extremisten hatten am Mittwoch vergangener Woche in Godhra einen Personenzug gestoppt und drei Waggons mit Brandbomben angegriffen. 57 Menschen starben, unter ihnen mehr als ein Dutzend Kinder.

Die indische Tageszeitung The Pioneer behauptet unter Berufung auf Quellen im Innenministerium, pakistanische Islamisten hätten den Angriff angeführt. Religiöse Konflikte in Indien anzuheizen, würde sich gut in die Eskalationsstrategie jener Gruppen einfügen, die einen »globalen Jihad« führen wollen. Doch die große Mehrheit des Mobs bildeten indische Muslime, und zweifellos handelte es sich um einen geplanten Massenmord, über dessen Folgen sich die Organisatoren klar sein mussten. Sie wurden nicht enttäuscht, bereits wenige Stunden später brannten muslimische Wohnhäuser und Geschäfte. Auch diese Racheaktionen waren zum größten Teil organisiert.

Politische Führer beider Religionen versuchen, durch das Anheizen der Auseinandersetzungen ihre Machtbasis zu erweitern. Symbolisches Zentrum des Konflikts ist der Streit um Ayodhya. Die ermordeten Hindus waren auf der Rückreise aus diesem Ort, wo der VHP am 15. März mit der Errichtung eines Tempels anstelle der 1992 von Hindu-Extremisten abgerissenen Moschee beginnen will.

Jene Kräfte, die damals Auseinandersetzungen provozierten, bei denen zwischen 2 000 und 6 000 Menschen starben, bilden heute die Regierungskoalition in Neu Delhi unter Führung der BJP. Die BJP regiert auch in Gujarat, und ihr Chief Minister Narendra Modi betrachtet das Verbrennen von Muslimen als physikalische Gesetzmäßigkeit: »Jede Aktion führt zu einer gleichen und entgegengesetzten Gegenreaktion.« Zudem hätten die Hindus »große Zurückhaltung angesichts einer schweren Provokation« gezeigt.

Premierminister Vajpayee wird den Gemäßigten in der Partei zugerechnet. Er steht jedoch unter starkem Druck, seitdem die BJP bei den Regionalwahlen im Februar die Macht in drei Bundesstaaten verloren hat - nach Ansicht des rechten Parteiflügels, weil die Regierungspolitik zu moderat ist. Derzeit verhandelt er mit dem VHP über eine zeitliche Verschiebung des Tempelbaus. Dass er es nicht wagen kann, das provokative Vorhaben schlicht zu unterbinden, zeigt, wie die groß die Macht der religiösen Extremisten ist.