Besser als Rondo Veneziano

Von Uli Krug

Jimi Tenor wagt sich mit seiner Platte »Recomposed« an die Grenze zwischen populärer und Neuer Musik. von uli krug

Um es vorwegzunehmen: Die zweite Veröffentlichung in der neuen Reihe »Recomposed« des altehrwürdigen Klassik-Vermarkters »Deutsche Grammophon« ist gut misslungen. Und zwar deswegen, weil der Anspruch, den Christian Kellersmann, Marketing-Chef der Abteilung Classics & Jazz von Universal Deutschland, an den als finnischen »Soundtüftler und Querdenker« vorgestellten Jimi Tenor stellte, weder aus der Sache heraus erfüllbar ist noch Tenor selbst sich gewillt zeigt, den Waldo De Los Rios zu machen (der verkaufte vor 35 Jahren Millionen von Platten mit leicht verdaulichen Klassik-Pop-Gassenhauern).

Das aber hatte Kellersmann offenbar von ihm erwartet, sagte er doch einmal: »Es muss doch möglich sein, klassische Musik auf moderne und attraktive, aber ungewohnte Weise öffentlich zu machen und dadurch neue, jüngere Hörer an ihre Schönheit heranzuführen. Ohne Besserwisserei und Belehrung, sondern selbstverständlich und emotional in geselliger Inszenierung – einfach trinken, rauchen, reden zu klassischer Musik.« Alles also, was der »mächtigen ›Donau­eschingen‹-Mafia« zuwider gewesen wäre, die in der Bundesrepublik einst Dissonanz und Atonalität durchgesetzt habe. Und noch einem deutschen Lieblingsfeind soll eins ausgewischt werden: »Klassik ist mittlerweile für eine neue, junge Szene der neue Underground. Mit Klassik lässt es sich auf elegante Weise von den berufsjugendlichen, ewig rockenden 68ern abgrenzen. Klassik erhält auf diese Weise eine neue Rolle. Klassik ist die neue Popmusik.«

Der erste Teil der Reihe »Deutsche Grammophon. Recomposed« hat den Chef der Plattenfirma insofern komplett zufriedenstellen müssen. Matthias Arfmann (u.a. Produzent der Beginner, früher Mitglied der Kastrierten Philosophen) reiht sich mit seinen dort abgelieferten Karajan-Remixen bruch­los in die lange Reihe derer ein, die sich schon daran versucht hatten, durch jeweils zeitgemäße Standard-Pop-Rythmisierung ein fürs Autoradio taugliches Klassik-Format herzustellen.

Jimi Tenor, mit bürgerlichem Namen: Lassi Letho, hingegen schafft es – und das macht seine neue CD so gut –, den von ihm herangezogenen Stücken Neuer Musik, Auszügen von Varèse und Boulez, zumindest keinen Tort anzutun und darüber hinaus dann doch an die »ewig rockenden 68er«, besser gesagt: den progressiven Jazz und Rock von damals, anzuschließen. Denn er remixt die Klassiker eben nicht, sie werden nicht in Wellness-Trip-Hop versenkt und mit verhalltem Dub-Beat vollends jeder Kante beraubt. Nein, Jimi Tenor stellt sich in den besten und gelungensten Stücken der »Recomposed«-CD zur Neuen Musik so, wie es Frank Zappa zu seinem Idol Varèse getan hat.

Zappa nämlich hatte sein legendäres Erstlingswerk »Freak Out« zwar dem damals als obskur geltenden Avantgardisten gewidmet und ihm deutlich hörbare Reverenzen erwiesen, aber dessen Kompositionen eben nicht direkt in einen Pop-Kontext gezwungen. Auch der bis auf die Drums alle Instrumente selbst spielende Tenor verweigert dankenswerterweise die »Rekomposition«, die der CD-Titel fälschlicherweise verspricht; ein Reihenname wie »Inspired By« träfe auf sein Werk sowieso eher zu als »Recomposed«.

Damit respektiert es den grundlegenden, unüberbrückbaren Unterschied zwischen noch so guter Pop-Musik und E-Musik: Pop-Stücke wer­den erst – wenn überhaupt – nachträglich notiert, ihre ursprüngliche Interpretation/Darbietung durch den Musiker/Komponisten ist nicht viel mehr als eine Vorgabe oder Anregung für spätere Anwender. Anders die Neue Musik, auf die sich Tenor bezieht: Dort wird die Grundidee von der objektiven Existenz von Musik, die unabhängig von der Willkür des Interpreten bleibt, durch die Form der Notation ernst genommen.

So eigenständig also die Kompositionen Tenors sind, die – wie gesagt: fälsch­licherweise – nach ihren Inspirationsquellen benannt sind, so sehr beziehen sie sich gleichzeitig dann aber doch auf diese: Zwar ist beispielsweise die Schock­wirkung eines Stückes wie Varèses »Ionisation« (1931) für 41 Schlag­instru­men­te und zwei Sirenen mit den vergleichsweise simplen Mitteln Tenors einfach nicht adäquat einzuholen, andererseits aber gibt der Anklang von Tenors Moog-Synthesizer an die Tonbandeffekte, die Varèse für »Déserts« (1954) ursprünglich verwendete, eine schöne Pointe. Ebenso wie das Eighties-Digital-Synthie-Gezirpe bei Boulez’ »Répons« den Stand der damals verwendeten Live-Elektronik augenzwinkernd karikiert. Es ist aber insbesondere der Minimalist Steve Reich, der Tenor zu wirklich gelungenen Stücken angeregt hat – in denen dieser nämlich den Minimalismus des Komponisten mit einem ganzen Arsenal von Orgeln, Saxofonen, Sequencern etc. kontert. Was dabei herauskommt, erinnert stark an Zappas ansonsten unerreichte Absurd-Symphonien der »Waka-Yawaka«- und »Grand-Wazoo«-Phase.

Zwei Schwächen hat Tenors aktuelles Werk aber doch: eine vermeidbare und eine unvermeidliche. Vermeidbar wäre gewesen, dass unter anderem auch ein sehr zweifelhafter Mentor wie der russophile Stalin-Liebling Georgi Swiridow für eine Neubearbeitung herangezogen wurde. Unvermeidlich aber ist, dass Tenor trotz allem abfällt gegen Zappas Varèse-Adaption oder auch Franco Bat­tiatos bzw. Axis’ prog-rockende Gehversuche in Nono- und Xenakis-Gefilden aus den Mittsiebzigern. Das ist nicht die Schuld des Finnen, sondern die des jeweils zu verarbeitenden zeitgenössischen Popmaterials – wo Zappa noch auf zumindest an den Jazz gewohnte Hörer setzen konnte, da muss Tenor auf das Arsenal der elektronischen Popmusik der letzten 20 Jahre zurückgreifen.

Doch dass man überhaupt wieder solche Vergleiche ziehen kann, ist zugleich das größte Verdienst des Exzentrikers Jimi Tenor. Er hat sich nicht erst mit »Recomposed« vorgewagt in seit Jahrzehnten ziemlich verlassene Gefilde: Bereits mit seinem Album »Out Of Nowhere« aus dem Jahr 2000, das er mit Rockband und dem »Orchestra of The Great Theatre Lodz« einspielte, verschlug es ihn an die verwaiste Grenze zwischen Populärmusik und E-Avantgarde. Eine Entwicklung, die kaum abzusehen war, als Jimi Tenor 1994 die Welt noch mit einem schlichten Ohrwurm namens »Take Me Baby« beglückte.

Jimi Tenor: Recomposed (Deutsche Grammophon)