Kabinett der Tränen

Die Ausstellung »Kino im Kopf« zeigt das Wechselspiel zwischen Psychoanalyse und Film. von esther buss

Der Einzug der Psychoanalyse ins Kino findet sich in den Filmen Alfred Hitchcocks in kom­primierter und stark vereinfachter Form: eine frigide Kleptomanin, die eine Krise bekommt, wenn sie die Farbe Rot sieht, ein an Amnesie leiden­der Arzt, der beim Anblick von Schienen oder Rasierschaum von Panikattacken überfallen wird, und ein an Höhenangst leidender Detektiv, der eine Dop­pelgängerin kreiert. Das Szenario einer traumatisierten Figur, deren Verdrängungsleistung durch signifikante, an das Trauma gebundene Symbole gestört wird und die sich schließlich durch die Nach­stellung der »Schlüsselszene« selbst therapiert, wird in Filmen wie »Marnie«, »Spellbound« oder »Vertigo« auf unterschiedliche Art und Weise erzählt. Aber da gibt es auch noch den an einem tonnenschweren Ödipuskomplex leidenden Schizophrenen in »Psycho«, den Krawattenmörder in »Frenzy«, den Voyeur in »Rear Window« und nicht zuletzt Hitchcock selbst, den von Obsessionen getriebenen Regisseur, der sich mit seinen Filmen vor den Augen des Publikums auf die Couch gelegt hat.

Alfred Hitchcock ist in einer Ausstellung, die den vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen den bewegten Bildern des Kinos und den Einsichten in die menschliche Psyche nachgeht, natürlich ein Evergreen. Seine Filme wirken fast wie Lehrstücke. Dabei sagt Gregory Peck in »Spellbound« (1945) abwehrend: »Dieses Freud’sche Zeug ist Unsinn.« Freud sagte ge­nau 20 Jahre zuvor: »Die Verfilmung der Psychoanalyse lässt sich ebenso wenig vermeiden wie der Bubikopf, aber ich lasse mir selbst keinen schneiden und will auch mit keinem Film in persönliche Verbindung gebracht werden.«

1925 wurden gleich zwei Filmprojekte vorbereitet, um die Psychoanalyse einem breiten Publikum nahe zu bringen: »Geheimnisse einer Seele« von G.W. Pabst (Deutschland 1926) und ein Film des Psycho­analy­ti­kers und späteren Freud-Biografen Siegfried Bernfeld, der jedoch an der fehlenden Finanzierung schei­terte. Freud lehnte die Mitarbeit an Pabsts Film ab, er befürchtete eine Vulgarisierung seiner Lehren und glaubte nicht, dass das Kino in der Lage sei, »unsere Abstraktionen in irgendwie respektabler Weise plastisch darzustellen«. Auch der amerikanische Filmproduzent Samuel Goldwyn versuchte vergeblich, Freud als Berater für eine »Antonius und Kleopa­tra«-Verfilmung zu gewinnen, und bot ihm sogar 100 000 Dollar. Freud stand aber auch den Vereinnahmungsversuchen der Bildenden Kunst skeptisch gegenüber. Die Surrealisten hielt er schlichtweg für »Narren«, erst Ende der dreißiger Jahre revidierte er diese Auffassung und ließ sich sogar von Salvador Dalí porträtieren. Dagegen ließ er sich nur ungern fotografieren und erst recht nicht filmen, wie Anna Freud in »Freud’s Home Movies« (1930 bis ’39) berichtet.

Freuds Abwehrmechanismen gegen das Kino, aber vor allem die zahlreichen Berührungen von Film und Psychoanalyse werden im Berliner Filmmuseum ent­lang eines Ausstellungsparcours vorgestellt, in dem der Besucher Teil eines psychoanalytischen Settings ist. Der historische Teil der Ausstellung – Hirnpräparate, Fotos, Briefe und andere Zettelwirtschaften – ist in verschiedenen »Behandlungszimmern« untergebracht, der filmische Teil breitet sich in einer räum­lichen Inszenierung aus – mit Monitoren, Leinwänden und der obligatorischen Anordnung von Couch und Fauteuil. Wer unbedingt möchte, kann sich zahl­reiche Filmausschnitte des mehr als vier Stunden umfassenden Materials also auch im Liegen ansehen. Oder als Beweis der eigenen »Schaulust« einen putzigen roten Samtvorhang vor einem kleinen Fernseher zur Seite schieben, um eine Sexszene aus dem mexikanischen Film »Y Tu Maman Tambien« zu gucken.

Film und Psychoanalyse entstanden etwa gleichzeitig: 1895 verfasste Freud seinen »Entwurf einer Psychologie« und deutete zum ersten Mal einen eigenen Traum, zugleich führten die Brüder Lumière ihre ersten bewegten Bilder vor. Bewegung und Bewegtheit sowie der Verzicht auf geschlossene, fest gefügte, statische Systeme weisen beide als Schlüsseltechniken der Moderne aus, die Montage stellt dabei als Prinzip bewegt-bewegender Verkettung das verbindende Moment dar. Wie die berühmten Hysteriestudien des Neurologen Jean Martin Charcot zeigen, kamen dort bereits quasi-filmische Verfahren zur Anwendung.

Der Fotograf Albert Londe, ein Schüler des Physio­logen und Erfinders der Chronofotografie Etienne-Jules Marey, entwickelte Methoden und Apparaturen, etwa eine Kamera mit zwölf Linsen, um das serielle Geschehen des hysterischen Anfalls zu dokumentieren. Die Fotos von Londe aus der Pariser Salpêtière, auf denen zu sehen ist, wie sich Patientinnen dramatisch auf ihrem Bett aufbäumen, das Gesicht zur Fratze verzerrt, liegen merkwür­dig nah an den Bildern, die wir von Linda Blair aus William Friedkins »The Exorcist« kennen.

Analogien wie diese sind jedoch zu speku­lativ, um in der Ausstellung Platz zu finden. Diese folgt einer rein wissenschaftlichen Argumentation. Psychiater, Hirnforscher und Neurowissenschaftler werden deshalb als Sachverständige hinzugezogen und untermauern die Ähnlichkeit von Film und Bewusstsein. Beispielsweise zeigen neurophysiologische Untersuchungen, wie der Zuschauer mit Gefühlsreaktionen auf Bilder antwortet, obwohl diese das Bewusstsein gar nicht erreichen. In einer Black Box kann der Besucher sein Regressionspotenzial dann auch selber testen. Mit zuckersüßer Musik untermalte Filmausschnitte aus Hollywood-Dramen, in denen gerade besonders rührselige Gefühle geköchelt werden, sind in einem so genannten Tränen­kabinett zu sehen – etwa »Imitation of Life« von Douglas Sirk, über dessen Melodramen Fassbinder ja mal gesagt hat, man müsse entweder heulen oder kotzen.

Das Verhältnis von Zuschauer und Lein­wand ist also auf Identifikation und Einfüh­lung ausgerichtet, während das Verhältnis von Analytiker und Patient eher durch den Begriff Übertragung organisiert ist. Um das komplizierte Verhältnis von Übertragung, Einfühlung oder auch Überschreitung geht es in Amy Siegels Spielfilm- und Dokucollage »Empathy«, in der auch einige Psychoanalytiker zu Wort kommen. Den alten Männern, die da auf ihren gut gepols­terten Sesseln interviewt werden, möchte man sein Seelenleben allerdings lieber nicht anvertrauen. »Yeah, it’s wonderfully voyeuristic«, schwärmt ein Analytiker und erzählt von den Schwierigkeiten, als Arzt die Grenze zur (natürlich gut aussehenden) Patientin zu wahren.

Das Verhältnis von Analytiker und Pa­tient ist im klassischen Hollywood-Film schon immer präsent gewesen, weniger im europäischen Kino. Schließlich ist der shrink in Amerika so alltäglich wie der Postbote. Ob in den Filmen Woody Allens oder auch in mainstreamigen Produktionen wie Harold Ramis’ »Analyze This«, die Psychoanalyse ist meist Gegenstand von Satire und Karikatur. Die intelligentesten Einfälle dazu liefern derzeit die beiden Filmemacher Charlie Kaufmann und Michel Gondry. In »Eternal Sunshine of the Spotless Mind« bietet eine Psychoklitsche den praktischen Service an, Erinnerungen an bestimmte Personen zu löschen. Gondrys Film erzählt vom Glück des Vergessens und ist dabei zutiefst anti-psychoanalytisch.

Dagegen folgen Filme, in denen ein Psychopath die Hauptfigur ist, ganz dem Freud’schen Konzept, nach dem der Psychoanalytiker wie ein Detektiv vorgeht. In dem Kapitel »Profiler und Psychopath« steht die kriminalistische Arbeit im Mittelpunkt, die sich ganz in die Psyche des Täters einzufühlen sucht. Ein frühes Beispiel ist Robert Siodmaks »Nachts, wenn der Teufel kam«, in dem Mario Adorf den debilen Frauenmörder Bruno Lütke spielt, am berühmtesten ist wohl Jonathan Demmes »Silence of the Lambs«, in dem Jodie Foster als junge FBI-Agentin eine annähernd therapeutische Übertragungsbeziehung mit einem Serienkiller eingeht.

Identifikation führt zu Übertragung und Komplizenschaft – eine Erfahrung, die man also als Analytiker, Profiler und Zuschauer machen kann. Was passiert, wenn der Zuschau­er die Distanz zur Leinwand aufgibt, zeigt John Carpenter in der Horrorepisode »Cigarette Burns« (»trashige« Filme wie dieser fehlen in der Ausstellung leider). Nach dem Anblick des ultimativen Horrorfilms reißt sich der von Udo Kier gespielte Protagonist im Rausch seine Eingeweide heraus und legt sie in den Filmprojektor ein. So wird er selbst zum Zelluloid und kann sich dabei gleichzeitig auf der Leinwand betrachten. Für dieses einmalige Erlebnis bezahlt er natürlich mit dem Tod.

»Kino im Kopf. Psychologie und Film seit Sigmund Freud«. Ausstellung im Filmmuseum Berlin, Filmreihe im Kino Arsenal. Bis 7. Januar 2007