Ein heißer Sommer

In Serbien findet die größte Streikwelle seit Jahren statt. Die Proteste sind spontan und nicht von den Gewerkschaftsverbänden kontrolliert. von boris kanzleiter, belgrad

So viele neue Freunde hat Ratibor Trivunac noch nie auf einmal gewonnen. Der Sekretär der Anarchosyndikalistischen Initiative (ASI) war in der populären Fernsehtalkshow Klopka, der serbischen Version der Sendung von Sabine Christiansen, aufgetreten und hatte ein rhetorisches Feuerwerk gegen die Sozialpolitik der Regierung entzündet. Seitdem kann er sich vor Sympathiebekundungen kaum noch retten. »An der Bushaltestelle, beim Bäcker, überall sprechen mich die Leute an und schütteln mir die Hand«, erzählt der 23jährige begeistert und meint zufrieden: »Ich habe wohl vielen aus dem Herzen gesprochen.«

Zumindest hat der bärtige Anarchist mit seiner radikal vorgetragenen Kritik an der miserablen sozialen Situation einen Nerv getroffen. Seit Wochen streiken und protestieren in Serbien Tausende von Beschäftigten unterschiedlicher Betriebe. Den Anfang der größten Streikwelle seit dem Sturz Slobodan Milosevics vor knapp vier Jahren machten Ende Juli die Bergarbeiter aus der ostserbischen Minenstadt Bor. Sie blockierten so lange die Autobahn, bis ihnen die Regierung 30 Euro mehr in die Lohntüte zu stecken versprach. Jetzt verdienen sie 170 Euro im Monat, einen Lohn, von dem man auch im verarmten Serbien nicht einmal bescheiden leben kann. Aber immerhin ist er ein bisschen höher als zuvor.

Der Erfolg der Bergarbeiter war der Zündfunke für andere Streiks. Die Beschäftigten der Eisenbahnlinien legten die Arbeit nieder, eine wütende Masse von Arbeitern der Waffenfabriken aus der Industriestadt Kragujevac fuhr zur Demonstration in die Hauptstadt, die Gewerkschaften des Gesundheitswesens riefen zum Streik auf. Kein Tag vergeht, an dem nicht neue Proteste organisiert oder angekündigt werden. Und auch die Straßenblockaden gehen weiter. Besonders aktiv zeigen sich dabei in diesen Tagen die Himbeerpflücker und die Arbeiter der staatlichen Elektrizitätswerke. Ein Ende der Streikwelle ist nicht in Sicht.

Was die Proteste unberechenbar macht, ist, dass sie von keinem der drei größeren Gewerkschaftsverbände in Serbien kontrolliert werden. Zwar beteiligt sich der alte, Milosevic nahe stehende »Bund unabhängiger Gewerkschaften Serbiens« an einer Reihe von Auseinandersetzungen, und auch Mitglieder der dem »demokratischen Lager« der ehemaligen Opposition angehörigen Gewerkschaft »Nezavisnost« (Unabhängigkeit) und der »Assoziation unabhängiger und freier Gewerkschaften« sind unter den betrieblichen Aktivisten. Aber viele Proteste haben einen spontanen Charakter. »Diese Streiks sind ein nicht organisierter sozialer Reflex auf die schwierige Situation im Land«, analysiert Branislav Canak, Vorsitzender von »Nezavisnost«.

In der Unorganisiertheit sieht das euphorische Häuflein der Anarchosyndikalisten seine Chance und tritt mit schwarz-roten Fahnen in die erste Reihe der Blockaden. Aber von einer politischen Streikbewegung, wie sich das die linken Aktivisten wünschen, ist man weit entfernt. Es kommt kaum zu einer Zusammenführung der meist lokal beschränkten Proteste und schon gar nicht zu einer politischen Diskussion über gemeinsame Perspektiven.

Dennoch ähneln sich viele der Probleme. So kommt es zu den Forderungen nach Lohnerhöhungen, wie bei den Bergarbeitern von Bor, oder nach staatlich garantierten Aufkaufpreisen, wie im Fall der kämpferischen Himbeerpflücker. Der Stein des Anstoßes für die Proteste ist meist der Verlauf des Privatisierungsprozesses, der seit dem Sturz Milosevics im Eiltempo forciert wird. In einigen Fällen, wie bei der Elektrizitätsgesellschaft, wehren sich die Beschäftigten staatlicher Unternehmen ganz gegen eine angekündigte Privatisierung und Zerteilung des Unternehmens in viele Einzelbetriebe. Zu Recht werden Entlassungen befürchtet.

In anderen Fällen wendet sich der Protest vor allem gegen die zahlreichen Unregelmäßigkeiten bei der Privatisierung. So sind die Käufer der zur Versteigerung stehenden ehemaligen Staatsbetriebe oft dubiose Geschäftsmänner aus der Kriegszeit, so genannte Biznesmeni, die kein Interesse an Investitionen haben, sondern daran, illegal erwirtschaftetes Kapital zu waschen. Im Fall des Arzneimittelherstellers Jugoremedia in der nordserbischen Kleinstadt Zrenjanin halten über 200 Arbeiter den Betrieb bereits seit Dezember besetzt, um dem ungeliebten neuen Eigentümer keinen Zugang zu gewähren. Dieser hat einen privaten Wachdienst engagiert, um die Streikenden einzuschüchtern. Regelmäßig spielen sich dort dramatische und blutige Szenen ab.

Der Hauptgrund für die ausbleibende Politisierung der Proteste ist in der fast kompletten Abwesenheit einer Diskussion über Alternativen zur gegenwärtigen Sozial- und Wirtschaftspolitik zu suchen. Zwar bekämpfen sich die zahlreichen Parteien fortwährend. Doch ob Monarchisten, Demokraten oder Nationalisten aller Schattierungen: die Auseinandersetzungen werden meist um banale Skandale und persönliche Verfehlungen einzelner Politiker geführt. Das Modell einer brachial durchgesetzten marktwirtschaftlichen Strukturreform, mit der die nach einem Jahrzehnt des Krieges und Embargos weitgehend bankrotte und konkurrenzunfähige Industrie dem Zusammenbruch überlassen wird, bleibt politisch unwidersprochen. Eine Linke, die über symbolische Interventionen hinaus in gesellschaftliche Auseinandersetzungen eingreifen könnte, existiert nicht.

So könnte der heiße Sommer der Streiks zu einer politischen Absurdität führen. Denn Profit aus dem Unmut schlägt derzeit vor allem Bogoljub Karic. Der neue Shooting Star der politischen Szene ist selbst einer der größten Profiteure der Marktreformen. Der bereits unter Milosevic zum superreichen Medienmogul und Großunternehmer aufgestiegene ehemalige Schlagersänger hat es bei den Präsidentschaftswahlen im Juni auf Anhieb auf den dritten Platz geschafft. Seine penetrant wiederholte Botschaft lautet: »Serbien hat Kraft.« Damit appelliert er an das Selbstwertgefühl der krisengeplagten Bevölkerung. Als Beispiel für Erfolg inszeniert er sich selbst. Nach neuesten Umfragen liegt seine vor zwei Monaten gegründete Partei hinter der Demokratischen Partei (DS) von Boris Tadic und den Rechtsextremisten der Serbischen Radikalen Partei (SRS) bereits auf dem dritten Platz. Die erst seit Februar regierende, von den Altsozialisten unterstützte konservativ-neoliberal-monarchistische Parteienkoalition unter dem farblosen Premier Vojislav Kostunica käme zusammen auf noch nur 20 Prozent. Das sieht nach baldigen Neuwahlen aus.