Schakals Lektor

Johannes Weinrich, ein führendes Mitglied der terroristischen Carlos-Gruppe, steht in Berlin vor Gericht. Die Anklage wirft ihm sechsfachen Mord und über 100fachen Mordversuch vor. von christoph villinger

Langsam rollt die Boeing 707 der israelischen Fluggesellschaft El-Al auf die Startbahn des Flughafens Paris-Orly zu. 136 Passagiere und zwölf Besatzungsmitglieder sind auf dem Weg nach New York. Es ist der 13. Januar 1975. Auf einer kleinen Besuchertribüne packen drei Attentäter eine Panzerfaust aus, einer legt an, zielt auf das Flugzeug und drückt ab. Das Geschoss fliegt über das startende Flugzeug hinweg und schlägt in eine leer stehende jugoslawische Maschine ein. Auch ein zweiter Schuss trifft nicht die Boeing, sondern ein Verwaltungsgebäude.

Nach ihrer Flucht mit einem weißen Peugeot treffen sich die drei Palästinenser aus dem Libanon wie verabredet in wenigen Kilometern Entfernung mit dem Venezolaner Ilich Ramirez Sanchez, genannt Carlos, und dem Deutschen Johannes Weinrich. Die beiden warten auf die drei Mitglieder einer Splittergruppe der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) in einem zweiten Fluchtfahrzeug. Zu dem Motiv für den Anschlag gibt es verschiedene Vermutungen. Entweder handelte es sich um Rache für die Ermordung eines PFLP-Führers oder um ein Fanal gegen die damals beginnende vorsichtige Friedenspolitik des Präsidenten der PLO, Jassir Arafat.

Für Johannes Weinrich war es seine erste Aktion in diesem internationalen Zusammenhang. In der Bundesrepublik Deutschland arbeitete er als Lektor beim Verlag Roter Stern und hatte sich als Herausgeber der Reihe »Erziehung und Klassenkampf« einen Namen gemacht. Außerdem gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der Revolutionären Zellen (RZ).

Als Exponent des so genannten internationalen Flügels trennte er sich nach heftigen internen Auseinandersetzungen Ende der siebziger Jahre von den RZ und schloss sich der von Carlos geführten Organisation internationaler Revolutionäre an. Über zehn Jahre versuchten sie, mit Attentaten den »weltweiten antiimperialistischen Befreiungskampf in die Metropolen« zu tragen. Schließlich verhedderten sie sich im Gestrüpp osteuropäischer und arabischer Geheimdienste und warfen alle revolutionäre Moral über Bord.

Carlos wurde 1994 von französischen Agenten im Sudan verhaftet und nach Frankreich geflogen. Ein Jahr später spürten deutsche Fahnder Weinrich im Jemen auf und erreichten seine Auslieferung nach Deutschland.

Ab 5. März muss sich nun der inzwischen 55jährige Weinrich vor der 35. Strafkammer des Berliner Landgerichts unter anderem für das versuchte Attentat in Paris-Orly verantworten. Oberstaatsanwalt Detlev Mehlis wirft ihm in seiner Anklageschrift insgesamt sechsfachen Mord und über 100fachen Mordversuch vor. Fünf Anschläge der so genannten Carlos-Gruppe zwischen 1975 und 1983 in Paris, München, Marseille und Athen sollen in dem auf mindestens ein Jahr angesetzten Verfahren verhandelt werden.

Mehlis beschuldigt Weinrich, der zu den Tatvorwürfen schweigt, auch eines Anschlags auf die Redaktion des US-amerikanischen Propagandasenders für Osteuropa, Radio Free Europe, im Februar 1981 in München. Auftraggeber soll der rumänische Geheimdienst Securitate gewesen sein.

Die Bombe verletzte acht Menschen, einige von ihnen schwer. Am 24. April 1982 starb in Paris eine Passantin und 59 Menschen wurden verletzt, als vor der arabischen Oppositionszeitung Watan Al Arabi eine Autobombe explodierte. Auch für einen Anschlag auf den damaligen saudi-arabischen Botschafter in Athen soll Weinrich verantwortlich sein.

Schließlich macht der Oberstaatsanwalt Weinrich für die beiden Sprengstoffanschläge am Abend des 31. Dezember 1983 im Hauptbahnhof von Marseille und im Gepäckabteil eines Hochgeschwindigkeitszuges verantwortlich. Fünf Menschen starben, über hundert wurden verletzt. Als Motiv vermutet die Staatsanwaltschaft Rache für einen französischen Luftangriff im Libanon.

Da Weinrich bereits im Januar des Jahres 2000 vom Berliner Landgericht nach einem vierjährigen Prozess wegen Mordes zu »lebenslanger Haft mit besonders schwerer Schuld« verurteilt wurde, kann ihm ein neues Urteil relativ egal sein. Damals verhandelte das Gericht den Anschlag auf das Westberliner Maison de France im August 1983, bei dem ein zufällig anwesender Besucher starb und über 20 weitere verletzt wurden. Wie in diesem ersten Prozess basiert die Anklage auch diesmal vor allem auf Erkenntnissen des Staatsschutzes aus Akten der Ostberliner und der ungarischen Staatssicherheit.

Die Frage, ob sich eine Anklage und ein Urteil im Wesentlichen auf Stasi-Akten stützen dürfen, bejahte inzwischen der fünfte Senat des Bundesgerichtshofes in Leipzig. So stehe nicht so sehr die Aufklärung, sondern »die Aufarbeitung der Taten im Vordergrund«, wie der Gerichtssprecher Björn Retzlaff betont.

Grundsätzlich neu sind die nun zur Anklage kommenden Geschichten nicht. Als den deutschen Behörden im Jahr 1990 Teile der Stasi-Akten in die Hände fielen, fanden sie auch den operativen Vorgang »Separat«. Akribisch führte Weinrich in Ostberliner Hotelzimmern Buch über Vorbereitungen für Anschläge. Kaum hatte er das Hotel verlassen, fotografierte die Stasi seine Notizzettel.

Der Journalist Oliver Schröm veröffentlichte schon vor einem Jahr unter dem Titel »Im Schatten des Schakals« eine flott geschriebene Fassung der Anklageschrift. Auf über 300 Seiten verfolgt er die Spuren von »Carlos und den Wegbereitern des internationalen Terrorismus«. Doch er reduziert eine politisch fatale Geschichte auf einen Kriminalfall, angereichert mit ein paar Bettgeschichten. Auch wenn man die Taten von Carlos und Weinrich vehement ablehnt, muss man doch nach deren politischen Motiven fragen.

Diese sind in den Kategorien des antikolonialen und antiimperialistischen Befreiungskampfes zu finden, die in den siebziger und achtziger Jahren in weiten Teilen der radikalen Linken verbreitet waren. Man träumte von »der Einkreisung der imperialistischen Zentren« durch die Länder des Trikont.

Selbst innerhalb Europas interpretierte man die Kämpfe der Iren und Basken beziehungsweise ihrer bewaffneten Organisationen IRA und Eta als antikoloniale Befreiungskriege. Carlos und Weinrich sahen sich als Koordinatoren dieser Kämpfe in Westeuropa. Einen besonderen Bezugspunkt für viele stellte der Kampf sich besonders radikal gebender palästinensischer Organisationen dar, bald spielten allerdings auch materielle Abhängigkeiten eine Rolle. Wegen verschiedener Massaker der Kolonialmächte in den Befreiungskriegen meinten manche der antiimperialistischen Kämpfer, auch keine Rücksicht auf Zivilisten nehmen zu müssen.

Andere zielten absichtlich auf Zivilisten, besonders wenn sie aus Israel kamen. So konnte zum Beispiel Rolf Pohle 1976 in seiner damals viel beachteten Verteidigungsrede gegen seine Auslieferung nach Deutschland vor dem obersten griechischen Gerichtshof Areopag unwidersprochen sagen: »Nicht nur El-Al-Maschinen sind als zivile Maschinen getarnte Kriegsmaschinen gegen Palästina mit bewaffneten Soldaten und Offizieren der Zionisten-Armee und ihrer CIA als Besatzung, sondern alle Flugzeuge, die von und nach dem besetzten Palästina fliegen.«

So oder so ähnlich dürfte Weinrich am Morgen des 13. Januar 1975 auch gedacht haben.