Wohnungslose Menschen in Berlin berichten von ihrer Situation

Mehr als nur Mietschulden

Die Bundesregierung will mit einem »Aktionsplan« bis 2030 die Obdachlosigkeit überwinden. Wenn man sich auf Berliner Straßen umhört, erfährt man, wie realitätsfremd die Pläne sind.

Meru hat lange, zerzauste weiße Haare und trägt eine große Sonnenbrille. Über 1.500 Führungen über sein Leben in der Obdachlosigkeit habe er bereits hinter sich, erzählt er seinen acht Zuhörerinnen und Zuhörern. Organisiert hat die Tour der Verein Querstadtein. Los geht es in der Jebensstraße am Zoologischen Garten. Hier gab es in den siebziger Jahren eine der berühmtesten Stricherszenen Berlins. Auch Christiane F.s Freund ging hier anschaffen. Das Schlimmste an den Einrichtungen für Obdachlose, meint Meru, sei, dass man dort seinen Alkohol und seine Drogen abgeben müsse. »Da beginnt für viele der kalte Entzug.«

Nachdem Susanne ihrem Arbeitsplatz verloren hatte, verfiel sie in eine Depression, öffnete ihre Post nicht mehr. Dann kam die Zwangsräumung.

Der kürzlich veröffentliche »Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit« der Bundesregierung führt als Hauptursache für Wohnungslosigkeit Mietschulden an. Jede zweite wohnungslose Person sei in »irgendeiner Weise« von Mietschulden betroffen, »die zur ihrem Wohnungsverlust beitrugen«, heißt es dort.
In der Regel schützen Sozialleistungen wie Bürgergeld und Wohngeld davor, dass man für seine Miete nicht mehr aufkommen kann. Oft sind es also Mietschulden in Kombination mit anderen Gründen, die zum Verlust der Wohnung führen: plötzlicher Verlust des Arbeitsplatzes, Depressionen, ein brüchiges soziales Umfeld oder andere Krisen.

»Ich habe mein ganzes Leben lang als Sekretärin in einer Anwaltskanzlei ge­arbeitet«, erzählt Susanne der Jungle World, dann verlor sie unvermittelt ihre Stelle. Susanne ist eine von fünf Prot­agonistinnen der Ausstellung »Mitten unter uns. Wohnungslose Frauen* in Berlin«, die noch bis März 2025 im Humboldt-Forum zu sehen ist. Nach dem Verlust ihres Arbeitsplatzes verfiel sie in eine Depression, öffnete ihre Post nicht mehr. Dann kam die Zwangsräumung.

Nicht obdachlos, aber wohnungslos

Susanne gehört zu der Gruppe, die den allergrößten Teil der Menschen ausmacht, die in Deutschland keine eigene Wohnung haben: Sie ist nicht obdachlos, sondern wohnungslos. Wie etwa 400.000 andere Menschen lebt sie in einer öffentlichen Unterkunft. Weitere 50.000 Menschen sind in Deutschland nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V. obdachlos, sie leben also auf der ­Straße.

Auf Unterbringung hat in Deutschland nach dem Sozialgesetzbuch jeder Anspruch. »Einige möchten jedoch nicht in so einer Unterbringung leben«, erklärt Stefan Schneider von der Wohnungslosenstiftung der Jungle World. In diesen »Zwangsgemeinschaften« gelte oft das »Recht des Stärkeren«, häufig komme es zu Übergriffen.

Susanne hat mit ihrer Unterbringung Glück gehabt. In ihrem Wohnheim gäbe es mehrheitlich Einzelzimmer und auch Sozialarbeiter. Beides sei keine Selbstverständlichkeit. Der Weg raus aus den Einrichtungen sei zudem für viele schwierig. »Einige haben es nicht so mit Formularen«, berichtet Meru auf seiner Tour. Susanne meint, dass sie mit ihrem Schufa-Score sowieso keine Chance auf eine Wohnung habe.

Allein in Berlin fehlen 130.000 Sozialwohnungen

Aus rein finanzieller Sicht sei ihre Unterbringung nicht sinnvoll, sagt Susanne. Mit dem Geld, das der Betreiber des Komplexes für ihre Behausung erhalte, könnte man sich eine »hübsche Wohnung« leisten. Allein, diese Wohnungen gibt es nicht. Nach einer Studie des Bündnisses Soziales Wohnen fehlen allein in Berlin derzeit 130.000 Sozialwohnungen.

Neben Präventionsmaßnahmen wie Schuldnerberatung sei es deshalb notwendig, ausreichend Wohnraum zur Verfügung zu stellen, heißt es auch im »Aktionsplan gegen Wohnungslosigkeit«. Neu gebaut werden in Deutschland derzeit weniger als 300.000 Wohnungen pro Jahr, womit das von der Bundesregierung gesteckte Ziel von 400.000 weit verfehlt wird. Das trägt dazu bei, die Wohnungsnot weiter zu verschlimmern, vor allem in Berlin, wo die Bevölkerung wächst. Das von der EU formulierte Ziel, Wohnungslosigkeit bis 2030 ganz zu beenden, zu dem sich auch die Bundesregierung bekannt hat, scheint nicht nur deshalb illusorisch.

Zumindest in Berlin scheint man wenig Interesse daran zu haben, Zwangsräumungen zu verhindern. Im vergangenen Herbst beendete die Berliner Justizsenatorin Felor Badenberg (parteilos) ein Pilotprojekt, das unter ihrer Amtsvorgängerin Lena Kreck (Linkspartei) initiiert worden war.

In einer Stellungnahme zum Aktionsplan fordert die Wohnungslosenstiftung, dauerhaft auf Zwangsräumungen zu verzichten, und eine fünfmonatige Hotelunterbringung für obdachlose Menschen – so wie es in der Frühphase der Covid-19-Pandemie zum Teil passiert sei. Zudem müsse man ungenutzten Wohnraum zur Verfügung stellen. Nur dann könne man behaupten, dass man es mit der Abschaffung der Wohnungslosigkeit auch wirklich ernst meine.

Zumindest in Berlin scheint man wenig Interesse daran zu haben, Zwangsräumungen zu verhindern. Im vergangenen Herbst beendete die Berliner Justizsenatorin Felor Badenberg (parteilos) ein Pilotprojekt, das unter ihrer Amtsvorgängerin Lena Kreck (Linkspartei) initiiert worden war. Es hatte vorgesehen, dass Räumungsklagen persönlich übergeben werden sollten. Betroffene in eventuellen Krisensi­tuationen sollten dabei direkt beraten oder an Hilfsangebote vermittelt ­werden.

»Ohne Hilfe hat man keine Chance«, erzählt Meru am Ende seiner Tour. Außerdem müsse man von den Drogen wegkommen. Er selbst habe sich Bücher aus der Stadtbücherei ausgeliehen, »um geistig fit zu bleiben«. Eines Tages habe ihn ein Polizist angesprochen. »Du nimmst keine Drogen und jeden Tag sehe ich dich hier lesen. Wir bringen dich jetzt in eine Unterbringung.« Aber auch dort sei es schwierig gewesen. Die ersten drei Tage habe er draußen geschlafen, außerdem seien manche Sozialarbeiter wie Mütter, »die wollen sogar für dich bügeln«. Allein um seinen Sozialarbeiter wieder loszuwerden, habe er sich um eine Wohnung gekümmert.