Die Mehrheit der Bevölkerung will Schwangerschaftsabbrüche entkriminalisieren

Kein Kompromiss

Die Union spricht von einem guten Kompromiss, die Mehrheit der Bevölkerung ist anderer Meinung. Dass der Schwangerschaftsabbruch noch immer im Strafgesetzbuch steht, bedroht die Autonomie von Frauen und führt zur Stigmatisierung von Betroffenen sowie Ärzt:innen, die ihn vornehmen.

Ein neuer Streit um das Abtreibungsrecht ist entbrannt, nachdem die von der Regierung eingesetzte Expertenkommission eine Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen empfohlen hatte. Zwar ist der Schwangerschaftsabbruch in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen bereits unter bestimmten Bedingungen straffrei. Er bleibt aber grundsätzlich rechtswidrig. Die Kommission empfiehlt genau hier eine Änderung. Für betroffene Frauen, so die Kommission, sei es nicht nur eine Formalie, sondern mache einen bedeutenden Unterschied, ob das, was sie tun, Unrecht sei oder Recht.

Vor allem Vertreter der katholischen Kirche und die konservative Opposition kritisieren die Empfehlung scharf. Die Bischofskonferenz beispielsweise wirft der Kommission vor, Kindern erst ab der Geburt das volle Lebensrecht zuzusprechen. Und die stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion, Dorothee Bär (CSU), kritisiert: »Wenn unser Staat sagt, dass das Beenden menschlichen Lebens kein grundsätzliches Unrecht mehr ist, dann kommt das einem Dammbruch unseres Werteverständnisses gleich.« Bereits bevor der Bericht der Kommission überhaupt vorgestellt wurde, hatte die Unionsspitze mit einer Klage gedroht, sollte die Bundesregierung sich die Vorschläge zu eigen machen.

Eine repräsentative Umfrage im Auftrag des Bundesfrauenministeriums kommt zu dem Ergebnis, dass mehr als 80 Prozent der Deutschen die Rechtswidrigkeit eines Schwanger-schaftsabbruchs für falsch halten.

Dass es noch in dieser Legislaturperiode zu einer Gesetzesänderung kommt, bleibt ungewiss. Egal ob Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP), Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) oder Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) – sie alle sehen die Empfehlung nur als Grundlage für weitere Diskussionen, die offen und faktenbasiert geführt werden sollten. Der Bericht müsse erst mal gründlich ausgewertet werden, denn das Thema sei komplex und sensibel. Immer wieder wird vor einer Polarisierung, sogar einer Spaltung der Gesellschaft gewarnt.

Dabei weisen nicht nur die Ergebnisse der Kommission auf einen dringenden Handlungsbedarf hin. Im April veröffentlichte das Forschungsprojekt »Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer« (Elsa) seine ersten Ergebnisse. Es ermittelt Erkenntnisse über die sozialen und gesundheitlichen Belastungen und Ressourcen von Frauen, die ungewollt schwanger sind. Es wird vom Bund gefördert. Die ersten Ergebnisse decken sich mit der Forderung der Kommission, Abbrüche zeitnah und barrierefrei in gut erreichbaren Einrichtungen zu ermöglichen.

Krankenkassen übernehmen die Kosten nicht

Betroffene haben es derzeit schwer, an Informa­tionen zu Schwangerschaftsabbrüchen zu gelangen. Dazu kommen oft lange Anfahrtszeiten und Probleme, den Abbruch zu ­finanzieren. Denn solange er verboten bleibt, werden die Kosten nicht von den Krankenkassen übernommen.

Neben regionalen Versorgungs- und Informationsproblemen erfasst die Studie zudem die Lebenslagen, in denen Frauen eine Schwangerschaft abbrechen oder eben nicht. Frauen, die eine Schwangerschaft abbrechen, sind demnach besonders häufig in einer finanziell angespannten Situation (47 Prozent), in keiner oder einer schwierigen Partnerschaft (42 Prozent) oder in einer Ausbildung, einem Studium oder arbeitslos (36 Prozent).

Die Union mag die derzeitige Regelung für einen guten Kompromiss halten. Eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung sieht das allerdings anders. Eine repräsentative Umfrage im Auftrag des Bundesfrauenministeriums kommt zu dem Ergebnis, dass mehr als 80 Prozent die Rechtswidrigkeit eines Schwangerschaftsabbruchs für falsch halten. Dieser Meinung sind Wähl­er:innen aller im Bundestag vertretenen Parteien. Selbst bei der Union sind es 77,5 Prozent, bei der AfD 67,4 Prozent. Zudem sind insgesamt rund 75 Prozent der Ansicht, dass Abbrüche nicht mehr im Strafgesetzbuch geregelt werden sollten.

Mit der Rechtswidrigkeit geht eine Stigmatisierung einher, die einen erheblichen Einfluss auf die psychische Gesundheit betroffener Frauen hat.

Mit der Rechtswidrigkeit geht eine Stigmatisierung einher, die einen erheblichen Einfluss auf die psychische Gesundheit betroffener Frauen hat. Ärzt:innen, die Abtreibungen vornehmen, erhalten oft Drohbriefe von Abtreibungsgegner:innen, ihre Adressen werden im Internet veröffentlicht. Immer wieder kommt es zu sogenannten Gehsteigbelästigungen, also Protestaktionen vor Arztpraxen, Krankenhäusern oder Beratungsstellen. Die Drohkulisse scheint ihre Wirkung zu zeigen: Immer weniger Einrichtungen in Deutschland nehmen Schwangerschaftsabbrüche vor. Nach Angaben des Statistischen Bundesamts hat sich die Zahl in den vergangenen 20 Jahren nahezu halbiert. Das liegt auch daran, dass Abtreibungen im Medizinstudium kaum vorkommen.

Eine Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes soll nun zumindest die Gehsteigbelästigungen unter Strafe stellen, wenn es nach Bundesfamilienministerin Lisa Paus geht. Die Union hingegen sieht dafür keine Notwendigkeit. Es gebe bereits rechtliche Mittel, dagegen vorzugehen, findet zum Beispiel Silvia Breher (CDU), die familienpolitische Sprecherin der Unionsfraktion im Bundestag.

Paus‘ Vorschlag für eine Neufassung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes ist längst überfällig, geht aber nicht weit genug. Der Gesetzentwurf zielt nur auf die öffentliche Form der Einschüchterungsversuche. Er untersagt lediglich eine Beeinträchtigung der Schwangeren im Umkreis von 100 Metern um Beratungsstellen oder Einrichtungen, die Abbrüche vornimmt. Bedrohungen über das Internet sowie Falschinformationen oder falsche Beratungsstellen (die weder staatlich anerkannt sind noch ergebnisoffen beraten) werden nicht berücksichtigt. Der Entwurf ist letztlich nur ein schwacher Trost, denn er behebt die defizitäre Versorgungs­lage ebenso wenig wie die Schwierigkeit, an Informationen zu gelangen.